„Kein Ende der Wirtschaftskrise ohne Ende der Kriegspolitik“

Der Ko-Vorsitzende des Gewerkschaftsverbands des Öffentlichen Dienstes (KESK) betont, die Wirtschaftskrise in der Türkei könne nur durch die Schaffung eines demokratischen Klimas beendet werde.

Die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Während der Großteil des Haushalts in die Kriegspolitik des Regimes fließt, machen die Investitionen in den Öffentlichen Dienst nur einen Bruchteil aus. Mehmet Bozgeyik, Ko-Vorsitzender des Gewerkschaftsverbands des Öffentlichen Dienstes (KESK), betrachtet im ANF-Gespräch die Folgen und Ursachen der Krise und gibt Ausblick auf mögliche Lösungsszenarien.

 

Die Angaben der Statistikbehörde zur Inflationsrate sind irreführend“

Bozgeyik bezweifelt die Angaben der Statistikbehörde zu den Inflationsraten in der Türkei und Nordkurdistan und erklärt zur aktuellen Lage: „Wie auf der ganzen Welt hat die Pandemie auch hier zu einem gewaltigen Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit geführt. Wir erleben einen Prozess der Verarmung, in dem Millionen von Beschäftigten entlassen und Läden geschlossen werden. Viele Frauen und Beschäftigte in der Tourismusbranche stehen ohne Job da. Der Staat hat keinen Ausgleich bei Lohnausfällen geschaffen und so rutschen diese Menschen immer weiter in die Armut ab. Wenn wir uns den Haushalt der Regierung für 2021 ansehen, ist das kein Haushalt zugunsten der Menschen, der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Armen; wir sehen hier einen Haushalt, der zu Gunsten des Palastes, des Krieges und des Kapitals konzipiert wurde. Die Pandemie hält auch im Jahr 2021 weiter an und so werden auch die Arbeitslosigkeit und die Armut weiter zunehmen. Wenn wir uns die Preiserhöhungen von Erdgas, anderer Treibstoffe und Grundnahrungsmitteln um 60 Prozent im Jahr 2020 anschauen, stellen wir fest, dass die neu festgelegte Höhe des Mindestlohns und die dreiprozentige Lohnerhöhung, die den Beschäftigten im Öffentlichen Dienst gewährt wird, nichts weiter bedeutet, als die vollkommene Verarmung zu besiegeln.

Der Haushalt für 2021 zeigt, dass die ideologische und politische Präferenz der Regierung bei neoliberaler Politik, Krieg und Kapital liegt. Angesichts der zunehmenden Verarmung sind sowohl die von TURKSTAT ermittelten Inflations- als auch die Arbeitslosenzahlen irreführend. An dem Tag, an dem TURKSTAT im Dezember eine Inflationsrate von 14,60 Prozent bekannt gab, erklärte eine unabhängige Inflationsforschungsgruppe in einem Bericht, dass die tatsächliche Inflationsrate bei 36,77 Prozent liege. Bei einer Umfrage, die wir als Gewerkschaft über die sozialen Medien starteten und an der 1.000 Personen teilnahmen, konnten wir feststellen, dass 99 Prozent der Befragten von einer Inflationsrate von über 30 Prozent ausgehen. Wir stehen hier vor einem Regierungsblock, der die Menschen in solche Not bringt, dass sie nicht einmal mehr trockenes Brot haben.“

Multiple Krise“

Bozgeyik spricht von einer „multiplen Krise“ in der Türkei. Er führt aus: „Auch wenn wir konstatieren, dass die Löhne sinken und wir mit tiefster Armut konfrontiert sind, so ist der Hauptgrund für das Chaos und die multiple Krise auf gesundheitspolitischer, ökonomischer und sozialer Ebene die imperialistische, expansionistische, bellizistische und neoliberale Politik der Regierung. Die Türkei ist auf dem Vertrauensindex zu einem unsicheren Kandidaten für Investitionen geworden. Auch aufgrund der inkonsistenten Diplomatie der Türkei herrscht Chaos. Damit diese ökonomische und gesellschaftliche Krise endet, muss ein demokratisches Klima in der Türkei geschaffen und der Gesellschaftsvertrag wieder mit neuem Leben erfüllt werden. Dafür müssen wir als KESK, als Arbeitnehmer und Angestellte unseren Kampf ausweiten.“

Vertrauensverlust an der AKP-Basis“

Auch an der Basis der AKP erleide das Regime einen Vertrauensverlust, stellt der Gewerkschafter fest und fährt fort: „Das Ministerium für Familien- und Sozialpolitik gab bekannt, dass diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, 39 TL pro Tag erhielten. Die Türkei verfügt auch über sehr spezielle statistische Daten, die in der Verarmungspolitik und der dadurch erzwungenen Abhängigkeit von der Regierungspartei begründet liegen. In den Statistiken des Ministeriums heißt es, dass sieben bis acht Millionen Menschen allein von der Sozialpolitik der Regierung lebten. Nach Untersuchungen des Gewerkschaftsbündnisses DISK und anderer Gewerkschaften sowie unserer eigenen Recherchen, liegt die Zahl der Arbeitslosen bei zehn Millionen. In einer solchen Situation zu behaupten, es gebe keine Arbeitslosigkeit und keine Armut, von einem Wirtschaftswachstum und einem steigenden Bruttosozialprodukt zu sprechen, ist nichts weiter als Schönfärberei. Die AKP verliert jetzt sogar das Vertrauen ihrer eigenen Basis."

Massive Repression in den kurdischen Provinzen“

Zur Situation in den kurdischen Provinzen sagt Bozgeyik: „Die Politik der Unterdrückung und des Krieges hat auch tiefgreifende Auswirkungen auf den Alltag. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli entwickelte sich eine Politik der Unterdrückung gegen die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst. Dies betrifft insbesondere die kurdischen Provinzen seit der Ausrufung des Ausnahmezustands am 20. Juli 2016. Tausende von Arbeitern, Anwälten und Angestellten im Öffentlichen Dienst wurden nach der Ernennung von Treuhändern in den Kommunen entlassen. In den vergangenen fünf Jahren nahmen die Exilierungen, Suspendierungen und Entlassungen aus dem Öffentlichen Dienst immer weiter zu. Die Repression gegenüber der demokratischen Politik, der regionalen Verwaltung und den Einrichtungen für Frauen, Jugend und Kinder in der Region ist gewaltig.

Der Hauptgrund liegt im Neoosmanismus, den die AKP im Mittleren Osten, in Asien und schließlich im Kaukasus verfolgt und der auf einer türkisch-islamischen Synthese beruht. Das ist in den zwölf Jahren Kriegspolitik in Syrien besonders deutlich geworden. Die Gouverneure, Institutionen und die Zentralbank der Türkei haben dort eine eigene Politik entwickelt. Wenn diese neue osmanisch-islamistische, nationalistische, ausgrenzende und bellizistische Politik nicht verschwindet, wird es nicht möglich sein, die politische oder die wirtschaftliche Krise in der Türkei zu heilen. Das Chaos in der Region wird jeden betreffen.“

Intensiver Kampf nötig“

Aber Bozgeyik sieht auch alternative Perspektiven: „Aus unserer Sicht wird 2021 sowohl im Hinblick auf die regionalen Machtbalancen als auch in Bezug auf die inneren Dynamiken im Land sehr schwer und hart werden. Die Bewegungen hier müssen auf ihre Kraft vertrauen, alle gesellschaftlichen Bereiche organisieren und den Kampf gegen die Unterdrückung durch das AKP/MHP-Regime ausweiten. Als Beschäftigte im Öffentlichen Dienst führen wir einen ökonomischen und gesellschaftlichen Kampf, aber auch einen Kampf um Frieden und Demokratie. Wir müssen die Probleme in ihrer Gesamtheit betrachten. Wenn wir 2021 die Verarmung, Arbeitsloslosigkeit und den Lohnraub beenden wollen, müssen wir gegen die antidemokratischen Praktiken und den Haushalft für das Kapital gemeinsam mit den demokratischen Kräften in der Gesellschaft kämpfen.“