Die Situation der Erwerbstätigen in der Türkei verschärft sich vor dem Hintergrund von Corona und Wirtschaftskrise immer mehr. Während anderswo die Folgekosten der Pandemie die Budgets für das kommende Jahr bestimmen, steht der Plan in der Türkei im Zeichen des Ein-Mann-Regimes. Vor einer Woche hat das türkische Parlament mit der Mehrheit der Koalition aus AKP und MHP nach zwölftägiger Debatte in der Generalversammlung den Haushalt für 2021 beschlossen.
Der Etat sieht für das kommende Jahr Ausgaben von 259,3 Milliarden Euro vor. Für Steuereinnahmen sind insgesamt 95,4 Milliarden Euro veranschlagt. Die Höhe des Haushaltsdefizits wird auf 25,4 Milliarden Euro geschätzt. Den Löwenanteil des Budgets steckt die Regierung in das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie. Für den Etat stimmten in namentlicher Abstimmung 316 Abgeordnete. Es gab 193 Gegenstimmen.
„Der für 2021 beschlossene Haushalt dient vor allem der Versorgung des Präsidialsystems und seiner Institutionen“, sagt Elif Çuhadar, Mitglied des Exekutivrats der linken Konföderation der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (KESK). Die Gewerkschaftsfunktionärin übt scharfe Kritik am beschlossenen Budget und stellt ihn in Relation zu dem von der türkischen Statistikbehörde TÜIK berechneten Mindestlohn. Dieser beträgt aktuell 2792 Lira, das sind umgerechnet knapp 300 Euro. Die Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie lagen im November bei etwa 879 Euro. Çuhadar warnt, dass ohne organisierten Widerstand der Erwerbstätigen der Abwärtstrend fortgesetzt werde.
Elif Çuhadar
„Jeder Zweite lebt vom Mindestlohn“
„Der Haushalt für das Jahr 2021 ist ein Haushalt für den Präsidialpalast und seine Mitarbeiter. Ein Mann entscheidet, wohin das Geld fließt. 65 Prozent des Haushalts kommen aus indirekten Steuern. Dieser Betrag wird eingezogen, ohne einen Unterschied zwischen Arm und Reich zu machen. Auf diese Weise wird das Kapital bevorzugt. Die Klassenpräferenz des Regimes liegt klar beim Kapital. Im Haushalt ist kein Platz für Arbeiter. Wir befinden uns in einem Land, in dem Arbeitslosigkeit und Armut so stark zugenommen haben, dass jeder Zweite vom Mindestlohn lebt und jeder Fünfte unter dem Mindestlohn bezahlt wird. Dieser Haushalt ist nicht unser Haushalt“, unterstreicht Çuhadar.
30 Millionen Menschen unter Hungergrenze
Eine am 25. Dezember veröffentlichte Studie der Demokratischen Partei der Völker (HDP) kommt zu ähnlichen Zahlen. Demnach verdienen 60 Prozent der Lohnarbeitenden in der Türkei den Mindestlohn und mindestens 20 Millionen leben unter der Hungergrenze. Werden die zehn Millionen Menschen, die ihre Arbeit während der Pandemie verloren haben, hinzugenommen, liegt diese Zahl sogar bei 30 Millionen. Und laut der Versicherungsstatistik der Türkei (Stand August 2020) sind über acht Millionen Menschen sogar so arm, dass sie ihre allgemeinen Krankenversicherungsprämien nicht mehr zahlen können. Das bedeutet, dass das Einkommen dieser Menschen nicht einmal ein Drittel des Mindestlohns ausmacht und keine Immobilie in ihrem Namen eingetragen ist.
„Der Mindestlohn liegt unter der Hungergrenze“
Çuhadar erklärt, die in der parlamentarischen Generalversammlung stattfindende Debatte über den Mindestlohn seien für die KESK von größter Bedeutung. „Die Zahlen von TÜIK liegen unter der Hungergrenze. Damit sorgt die Statistikbehörde für Verunsicherung in der Gesellschaft. Die Arbeiter glauben ohnehin nicht, dass bei der Haushaltsdebatte etwas herauskommt. Die Gewerkschaft TÜRK-Iş, die im Namen der Arbeiter dort auftritt, hat leider nicht erklärt, was sie für einen Lohn fordert. Die Erwerbstätigen wollen, dass der Mindestlohn auf ein Niveau gebracht wird, der ein humanes Leben garantiert und steuerfrei ist. Die Arbeiter sind hier Partei. Der festgelegte Mindestlohn wird für eine Person berechnet. Es lebt aber eine ganze Familie davon. Wir betrachten die Haltung von TÜRK-Iş, dass zuerst die Arbeitgeber die Beträge bestimmen sollen, als nicht richtig. Es müssen die Arbeiter sein, die den Prozess bestimmen. Leider schwächen die Arbeitergewerkschaften den Kampf, die Organisierung und ihre Forderungen.“
„Der Ausweg ist Organisierung“
Das Jahr 2021 werde für Erwerbstätige noch schwerer werden als das Vorjahr, warnt Çuhadar. Das Ein-Mann-Regime bereite mit Gesetzen, der Missachtung des Rechts und seiner Repressionspolitik den Faschismus vor. „Diese Politik hat sich mit der bestehenden Wirtschaftskrise und der Pandemie noch weiter verschärft. Der Ausweg daraus ist die Organisierung der Arbeiter und die Ausweitung des Kampfes. Die Gewerkschaften sollten einen Prozess schaffen, in dem sich der Kampf der Arbeiterklasse mit dem der Angestellten im öffentlichen Dienst und dem der demokratischen Organisationen vereint. Wir müssen uns gegen die Repression des Regimes ebenso organisieren wie gegen die Rückschritte auf juristischer Ebene. Wenn wir uns nicht mit unseren Mitgliedsgewerkschaften hinter die Forderungen der Arbeiter stellen, kann diese Repression nicht zurückgeschlagen werden.“