Istanbul: Jurist:innen kämpfen für Aysel Tuğluk

Im Istanbuler Justizpalast haben Juristinnen und Juristen mit einer Protestaktion die Freilassung der schwer erkrankten kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk gefordert.

In Istanbul haben Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte mit einer Protestaktion im Justizpalast in Çağlayan auf die inhaftierte kurdische Politikerin Aysel Tuğluk aufmerksam gemacht und ihre sofortige Freilassung gefordert. Die ehemalige HDP-Abgeordnete wird trotz einer schweren Demenzerkrankung weiter in der Vollzugsanstalt Kandira in Geiselhaft gehalten.

Die Protestaktion begann mit fünf Schweigeminuten im Justizpalast, anschließend verließen die Jurist:innen mit lautem Klatschen das Gebäude, um vor der Tür eine Erklärung abzugeben. Bei den meisten Beteiligten handelte es sich um Mitglieder der Juristenvereinigung ÖHD, außerdem nahmen die Vorsitzende des Ärzteverbands TTB, Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı, und der Anwaltskammerpräsident der Türkei, Gürkan Altan, an der Aktion teil.

Wenn wir in einem Rechtsstaat leben würden“

Die Juristin Mebuse Tekay kritisierte in einer Rede das fehlende Engagement der Istanbuler Anwaltskammer, in der Aysel Tuğluk nach wie vor Mitglied ist. Aysel Tuğluk hat vor ihrer politischen Laufbahn selbst an Rechtsanwältin gearbeitet und unter anderem Abdullah Öcalan verteidigt. Tekay führte aus, dass Millionen Menschen hinter Aysel Tuğluk stehen und die Istanbuler Anwaltskammer den Fall ignoriert: „Würden wir in einem Rechtsstaat leben, wäre Aysel Tuğluk längst freigelassen worden. Der europäische Menschenrechtsgerichtshof hat entschieden, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität der HDP-Abgeordneten rechtswidrig ist. Weil wir jedoch kein Rechtsstaat sind, werden die Urteile nicht umgesetzt.“

Kritik am gerichtsmedizinischen Institut

Şebnem Korur Fincancı sagte in einer Rede: „Vor zwanzig Jahren ist die Todesstrafe gesetzlich abgeschafft worden. In der Praxis wird sie heute in Raten vollzogen, indem der Zustand schwerkranker Gefangener ignoriert wird.“ Aysel Tuğluk sei haftunfähig und ihre Freilassung werde durch das gerichtsmedizinische Institut (ATK) verhindert, erklärte die Wissenschaftlerin und Ärztin. Das dem türkischen Justizministerium unterstellte Institut für Rechtsmedizin in Istanbul hatte Mitte Februar in einem Folgegutachten erneut die Haftfähigkeit und Strafmündigkeit von Aysel Tuğluk festgestellt. Fincancı bezeichnete das Gutachten als unwissenschaftlich.

Über Aysel Tuğluk

Aysel Tuğluk ist Rechtsanwältin, ehemalige Parlamentsabgeordnete und war bis zu ihrer Verhaftung Ende 2016 stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP). In mehreren Verfahren wurde sie bereits verurteilt, andere Prozesse sind noch anhängig. Im Februar 2020 bestätigte der türkische Berufungsgerichtshof die bislang höchste Freiheitsstrafe gegen Tuğluk über zehn Jahre Haft. Verurteilt wurde sie aufgrund ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende des Graswurzelbündnisses „Demokratischer Gesellschaftskongress” (KCD) wegen „Leitung einer Terrororganisation“. Im Oktober vergangenen Jahres verhängte ein Gericht in Wan eine zwanzigmonatige Freiheitsstrafe wegen angeblicher PKK-Propaganda in den Jahren 2012 und 2013. Im sogenannten Kobanê-Prozess in Ankara droht Aysel Tuğluk eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe.