Seit mehr als drei Jahren gibt es kein Lebenszeichen mehr von Abdullah Öcalan. Der kurdische Vordenker ist seit 25 Jahren unter schwersten Isolationshaftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert. Weder Anwält:innen noch Angehörige können ihn besuchen, auch andere Wege der Kommunikation wie Telefon oder Briefe sind Öcalan verschlossen. Damit verstößt die Türkei sowohl gegen nationales als auch gegen internationales Recht. Das zuständige Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) handelt jedoch nicht und bestärkt so den türkischen Staat in seinem System der weißen Folter auf Imrali.
Seit dem 10. Oktober findet eine internationale Kampagne unter dem Motto „Freiheit für Abdullah Öcalan und politische Lösung der kurdischen Frage“ statt. Tausende Gefangene befinden sich im Widerstand und überall auf der Welt finden Aktionen und Proteste statt. Gleichzeitig wird die Ideologie des Apoismus einer immer größer werdenden Öffentlichkeit vorgestellt und entfaltet ihr emanzipatorisches Potential auch außerhalb Kurdistans.
Im Rahmen der Freiheitskampagne werden vom 15. bis 22. Juni in mehr als 50 Städten in über 15 Ländern, darunter Frankreich, Deutschland, Katalonien, Griechenland, Italien, Slowenien, die Schweiz, Kolumbien, Zypern, Belgien, das Vereinigte Königreich, Polen und Kenia, eine Reihe von Aktionen und Veranstaltungen unter dem Namen „Dialoge mit Öcalan – Ideen lassen sich nicht einsperren“ " stattfinden. Im ANF-Interview hat sich der kurdische Exilpolitiker Hatip Dicle als Sprecher der Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage“ dazu geäußert.
„Öcalan entlarvt den Kapitalismus“
Wie kam es zu der Idee der Aktionstage „Dialoge mit Öcalan“ und was ist das Ziel dabei?
Es gibt eine Kampagne, die seit dem 10. Oktober 2023 läuft. Wir diskutieren permanent die Frage, wie wir diese Kampagne verbreiten und noch mehr Öffentlichkeit schaffen können. Unsere Suche nach immer neuen Wegen geht weiter. In diesem Zusammenhang ist auch die Idee der „Tage des Dialogs mit Abdullah Öcalan“ entstanden. Das internationale Komplott und das System der absoluten Isolation auf Imrali richten sich nicht nur gegen Abdullah Öcalan als politische Persönlichkeit und Vertreter des kurdischen Volkes. Sie richten sich auch gegen Öcalan als Wegbereiter und Philosophen des demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert. Denn Öcalan entwickelte eine alternative Theorie zur kapitalistischen Moderne, indem er das Paradigma einer demokratischen Moderne und die Soziologie der Freiheit vorlegte. Er schrieb nicht umsonst: „Ich bin mir zutiefst bewusst, dass in meiner Person hier ein Antikapitalist gerichtet wird.“ Dies ist auch der Hauptgrund für die internationale Dimension des Imrali-Systems und das anhaltende Schweigen der internationalen Gemeinschaft und ihrer Institutionen. Die von Öcalan auf Imrali verfassten Verteidigungsreden entlarven das kapitalistische System und bieten den Gesellschaften alternative Lösungen an.
Obwohl die Inhaftierung und Isolation darauf abzielen, Öcalans Ideen von der Gesellschaft fernzuhalten, gibt es einen regen „Dialog“ zwischen ihm und Aktiven und Intellektuellen aus verschiedenen sozialen Bewegungen in der ganzen Welt. Die Wirkung seiner Verteidigungsschriften und insbesondere seines Manifests der demokratischen Zivilisation zeigt, dass Öcalans Ideen längst die Gefängnismauern überwunden haben und dass Ideen nicht eingesperrt werden können. Die Tage des Dialogs vom 15. bis 22. Juni sollen die Wirkung der politischen Philosophie Öcalans demonstrieren. In mehr als 50 Städten auf verschiedenen Kontinenten werden Veranstaltungen und Aktionen organisiert, um Öcalans Ideen zu diskutieren. So wird es beispielsweise Buchvorstellungen, öffentliche Lesungen, Informationsstände, Kunstaktionen, Theater, Bildungsseminare und andere Formate geben.
Bislang sind Veranstaltungen in Kenia, Kolumbien, Finnland, Schweden, Frankreich, Deutschland, Katalonien, Griechenland, Italien, der Schweiz, Zypern, Belgien, Großbritannien, Slowenien und Polen geplant. Auch in anderen Ländern werden Aktionen und Veranstaltungen organisiert. Sie werden von demokratischen, sozialistischen, ökologischen, feministischen, solidarischen und studentischen Gruppen und kurdischen Einrichtungen organisiert.
„Öcalan bietet konkrete Wege aus der Sackgasse“
Zuvor wurde eine Reihe von Veranstaltungen unter dem Namen „Öcalan-Lesetage“ organisiert. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen aus vielen Teilen der Welt, die an diesen Lesetagen teilnahmen, haben die Aufmerksamkeit auf die Paradigmen von Abdullah Öcalan gelenkt. Was bieten Öcalans Paradigmen Ihrer Meinung nach diesen Gruppen, warum erfahren sie eine so große Resonanz?
Eine Dimension der Kampagne „Freiheit für Abdullah Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage“ besteht zweifellos in dem Bemühen, das Paradigma für den Aufbau einer demokratischen und ökologischen Gesellschaft auf der Basis der Frauenbefreiung auch außerhalb Kurdistans zu vermitteln. Aus diesem Grund können die „Tage des Dialogs mit Öcalan“ auch als Fortsetzung und Vertiefung der „Global Öcalan Books Day!“ im Dezember 2023 definiert werden. Sie beziehen sich auf verschiedene Bewegungen, Zusammenhänge und Intellektuelle, die die politische Philosophie von Öcalan zur Grundlage ihrer eigenen Praxis machen. Denn die Krise der kapitalistischen Moderne ist überall präsent und verschärft sich ständig. Doch während die demokratischen und sozialistischen Kräfte in dieser Zeit des Chaos nicht die notwendigen Auswege organisieren, nutzen rechte und faschistische Bewegungen – wie wir bei den jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament gesehen haben – die Ängste der Gesellschaft aus und manipulieren sie. Abdullah Öcalan bietet den sozialistischen Kräften konkrete Lösungen an, um die theoretische und praktische Krise zu überwinden. In diesem Zusammenhang weist er auf die Notwendigkeit einer radikalen intellektuellen, moralischen und politischen Erneuerung des Gegnerschaft des Systems hin. Es gibt Bestrebungen und Bemühungen, die von Öcalan aufgezeigten Punkte zu verbreitern. Natürlich gibt es Unzulänglichkeiten, aber wir sind bestrebt, sie zu überwinden. Den sozialen Bewegungen fehlt eine ganzheitliche Theorie, die die verschiedenen Kämpfe zusammenführen kann. Heute bietet die Theorie der demokratischen Moderne der Linken, den sozialistischen, fortschrittlichen, demokratischen Kräften, den Frauenbewegungen, der Umweltbewegung und allen fortschrittlichen Kräften Perspektiven zu grundlegenden Fragen. Wir bemühen uns, diesen Lösungsansatz zu verbreiten und uns mit denen, die ebenfalls auf der Suche sind, zu verbünden.
„Mehr als Solidarität ist entstanden“
Mit der Freiheitskampagne für Öcalan hat sich ein internationales Solidaritätsnetzwerk entwickelt. Kann und sollte dieses wachsende Netzwerk zu einer internationalen Bewegung werden?
Die Freiheitsbewegung Kurdistans mit ihrem Wegweiser Öcalan, dem Architekten dieser Revolution, spielt mit ihrem Widerstand und den von ihr geschaffenen Strukturen auch im internationalen Kontext eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung der demokratischen Moderne. Mit der Revolution in Rojava, die auf der Idee des demokratischen Konföderalismus beruht, hat sich eine internationale Solidaritätsbewegung entwickelt. Der Begriff Solidarität deckt das Zusammentreffen dieser Kreise nicht vollständig ab, denn wir sehen zunehmend, wie verschiedene Menschen auf der ganzen Welt versuchen, die Ideen und Konzepte von Abdullah Öcalan in ihren eigenen sozialen Kontexten und Kämpfen anzuwenden.
Der Spruch „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ zeigt eine dialektische Entwicklung hin zum Diskurs „Das apoistische Gespenst geht um in der Welt“. Die Wirkungsmacht dieses Gespenstes ist viel größer als die derzeitig organisierte Kraft.
Die aktuelle Lage betrifft große Kreise, aber schlägt sich nicht in einer entsprechenden konkreten Organisation nieder. Die Frage des Internationalismus ist eines der Hauptthemen, die Rêber Apo [Abdullah Öcalan] in seinen Verteidigungsschriften anspricht. Während er das Weltwirtschaftsforum in Davos als „Klub der Reichen“ bezeichnet, nennt er die linken Kräfte, die sich in Plattformen wie den Weltsozialforen zusammenfinden, den „Klub der Armen“.
Es zeigt sich jedoch, dass diese Foren weit davon entfernt sind, das Chaos der kapitalistischen Moderne zu erfassen und zu überwinden. Der Vorschlag von Abdullah Öcalan für einen weltweiten demokratischen Konföderalismus bietet konkrete Perspektiven zu diesen Fragen, und wir können immer mehr feststellen, dass dieser Vorschlag von verschiedenen Kräften als konkrete Grundlage angenommen wird.
„Jeder Kurde und jede Kurdin muss diplomatisch arbeiten“
Glauben Sie, dass diese Aktivitäten und die Freiheitskampagne Druck auf den türkischen Staat und die Institutionen aufbauen konnten, die bisher zur Isolation auf İmralı geschwiegen haben?
Diese Veranstaltungen sind nur eine Dimension der Freiheitskampagne. Sie stellen eine wichtige Ebene dar, um die Beziehungen zu weiten gesellschaftlichen Kreisen zu vertiefen und Öcalans Ideen den Bedingungen der Isolation zum Trotz zu verbreiten und der Öffentlichkeit seine Bedeutung als Philosoph und Denker zu vermitteln. All dies muss jedoch, um ausreichenden Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausüben zu können, parallel zu anderen Ausrichtungen stattfinden. Der juristische Kampf gegen den Rechtsbruch ist dabei eine zentrale Dimension. Darüber hinaus muss die diplomatische Arbeit unter Einbeziehung einer breiten Öffentlichkeit intensiviert werden.
Das Ziel der Kampagne ist die körperliche Freiheit von Abdullah Öcalan. Dafür müssen wir permanent aktiv sein. Unsere Freundinnen und Freunde sind sehr aktiv und das ist gut so. Unser Volk misst der Kampagne große Bedeutung bei und beteiligt sich an ihr. Das müssen wir noch verstärken. In den jüngsten Briefen an das CPT wurde diese Institution und der Europarat zum Handeln aufgerufen. Solche Anstrengungen sollten überall und lokal durchgeführt werden. So sollten beispielsweise in jeder Stadt und Gemeinde Medieninstituionen, Parteien, zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen besucht werden und diese Kampagne auf die Tagesordnung dieser Einrichtungen gesetzt werden. Jeder Kurde und jede Kurdin sollte, damit wir erfolgreich sein können, diplomatisch arbeiten. Alle Menschen, die sich der Bedeutung des demokratischen Konföderalismus bewusst sind, müssen etwas unternehmen. Die Verteidigungsschriften müssen weit verbreitet werden, sie müssen an Interessierte weitergegeben werden, das Interesse muss geweckt und organisiert werden.