Hatay: Leben im Katastrophengebiet
Frauen und Kinder sind am schwersten von den Folgen des Erdbebens betroffen. In Hatay leben viele schwer traumatisierte Erdbebenopfer unter katastrophalen Bedingungen in Lagern.
Frauen und Kinder sind am schwersten von den Folgen des Erdbebens betroffen. In Hatay leben viele schwer traumatisierte Erdbebenopfer unter katastrophalen Bedingungen in Lagern.
Mehr als ein Monat ist seit den verheerenden Erdbeben in Nordkurdistan, der Türkei, Rojava und Syrien vergangen. Während sich die Menschen weiterhin selbst durch Solidaritätsnetzwerke zu helfen versuchen, hat sich an der mangelnden Versorgung durch die AKP/MHP-Regierung kaum etwas verändert. Vielerorts, insbesondere in den ländlichen Regionen, ist bisher keine Hilfe angekommen. In Nordkurdistan herrscht Repression statt humanitärer Unterstützung durch den Staat. Die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları befindet sich seit dem ersten Tag des Erdbebens in Hatay. Sie berichtet im Interview mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika über die politischen Auswirkungen des Erdbebens, die Haltung des Staates und die frauenspezifischen Probleme in den Erdbebengebieten.
Sie stammen aus Hatay. Ihre Familie und Ihre Verwandten sind hier. Sie haben auch als Individuum sehr unter dem Beben gelitten. Wie geht es Ihnen vor diesem Hintergrund?
Vom ersten Moment des Erdbebens an hier zu sein und die Hilfeschreie der Menschen zu hören, wäre für jeden Menschen tief erschütternd und schmerzhaft. Der größte Schmerz entsteht, wenn man sieht, wie die Menschen unter den Trümmern liegen und „Hilfe, rettet uns, helft uns“ schreien, während Angehörige oder Nachbarn ihnen von außerhalb zurufen: „Haltet durch, wir werden euch retten.“ Es schmerzte sehr, zu hören, wie diese Stimmen von Tag für Tag schwächer wurden und wir nichts unternehmen konnten. Ich fühle dasselbe wie alle Menschen, die miterlebten, was hier passiert ist. Es ist ein gewaltiger Schmerz. Für mich hier ist das die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Obwohl ich seit neun Jahren in Ankara lebe, bin ich mit diesem Ort immer verbunden geblieben und habe ihn nie ganz verlassen. Das historische Gefüge von Antakya und die Kultur des gemeinsamen Lebens hier haben viel zu meinem Selbstverständnis beigetragen. Einerseits bin ich wegen der Menschen, die ich verloren habe, sehr traurig, aber andererseits bin ich auch über die Tatsache erschüttert, dass meine Stadt mitsamt ihrer historischen Struktur unter Trümmern liegt. Wie bei allen anderen Bewohner:innen dieser Stadt verstärkt sich mein Schmerz daher um ein Vielfaches. Ein letztes Wort dazu: Egal, wohin wir gehen, egal, was wir erleben, wir werden diesen tiefen Schmerz nicht loswerden können. Dieser große und unbeschreibliche Schmerz unterscheidet sich von allem, was wir bisher erfahren haben. Es ist ein Schmerz tief im Herzen, ein Schmerz, der uns das Gefühl gibt, dass er nie vergehen wird, aber natürlich verlieren wir dennoch die Hoffnung nicht. Diese Region hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder aus den Trümmern erhoben. Es gibt immer Hoffnung, und wir werden diese Stadt wieder aus ihrer Asche auferstehen lassen.
Frauen leiden besonders unter den Folgen des Bebens. Es gibt weiterhin Probleme mit Hygiene, Gesundheit, Wasser und Unterkunft. Was können Sie über die Situation in Hatay berichten?
Es sind die Frauen und Kinder, die das schlimmste Trauma durch das Erdbeben erlitten haben. Egal, welche Frau man anspricht, sie bricht in Tränen aus. Kinder reagieren reflexartig auf das kleinste Geräusch, sie haben Angst und schreien. Zuallererst sollten in jedem Bezirk Psychotherapiezentren, die personell und materiell so ausgestattet sind, dass sie intensiv arbeiten können, um mit den Traumata von Frauen und Kindern umzugehen und diese zu lindern, eingerichtet werden. Das Hygieneproblem ist ein sehr wichtiges Thema, insbesondere das Problem der Toiletten ist noch nicht gelöst worden. In den meisten Zelt- und Containerstädten gibt es keine Duschen und Toiletten. Die Menschen müssen ihre Bedürfnisse in den Gärten erledigen. Es gibt immer noch nicht genug Wasser. An einigen wenigen symbolischen Orten wurden Wassertanks aufgestellt. Auch das ist durch gesellschaftliche Solidaritätsnetze erreicht worden. Die Zelt- und Containerstädte sind fast wie Internierungslager. Die Menschen haben nicht einmal ein Fleckchen Wohnraum. Die Versorgung der Bedürfnisse der Frauen in Bezug auf Hygiene, Toilette, Wasser und Waschmöglichkeiten muss sehr dringend garantiert werden.
Die Frauen haben keinen Zugang zu Hygienematerialien, einschließlich Binden. Vielerorts ist eine Krätze-Epidemie ausgebrochen, und die Menschen leiden unter Läusen. Schwangere Frauen haben ernste Probleme. Es gibt keinen Ort, an Schwangere sich untersuchen lassen können, da die Krankenhäuser zerstört wurden und das Gesundheitssystem zusammengebrochen ist. Schwangere Frauen wissen nach dem Trauma und dem Schrecken oft nicht, ob der Embryo in ihrem Bauch noch lebt oder nicht. Sie können nirgendwo hingehen und sich untersuchen lassen. In einigen Bezirken wurden Feldlazarette eingerichtet, und an einigen Orten wurden von der Ärztekammer (TTB) Krankenstationen eingerichtet. Aber diese sind sehr unzureichend. In allen durch das Erdbeben zerstörten Distrikten sollten dringend vollwertige Feldkrankenhäuser aufgebaut werden. Wir stehen in Kontakt mit dem Gesundheitsministerium, um diesen Bedarf zu decken, aber alle unsere Bemühungen bleiben erfolglos. Dies zeigt einmal mehr die Verkommenheit des Staates.
Sie waren seit dem ersten Tag des Erdbebens in Hatay. Was hat sich seitdem getan, was hat der Staat gemacht?
Wir alle wissen, wie wichtig die ersten 72 Stunden nach Katastrophen sind. In den ersten 72 Stunden war der Staat weder in der Lage, richtige Such- und Rettungsteams zu mobilisieren, noch hat er die Armee, AFAD oder den Roten Halbmond mobilisiert. Diese Regierung hat ihre eigenes Volk dem Tod überlassen und liegt jetzt selbst unter den Trümmern. Die gefühllose Haltung der Regierung gegenüber den Erdbebenopfern hat der Bevölkerung einen sehr hohen Preis gekostet. Da die Such- und Rettungseinheiten nicht rechtzeitig mobilisiert wurden, sahen wir, wie Menschen schreiend unter eingestürzten Gebäuden starben. Dieser Schmerz wird nie aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden. Wir haben gesehen, wie das Ein-Mann-Regime insbesondere AFAD und den Roten Halbmond ausgehöhlt und inkompetente Personen unverdienterweise an ihre Spitze gestellt hat. Der Rote Halbmond hat eine gute und eine schlechte Bilanz. Während er zuvor auch international Hilfe leisten konnte, verkauft er jetzt Zelte und Lebensmittel an die Opfer. Das ist vollkommen unbegreiflich. Es ist der Inbegriff für den strukturellen Verfall und die Verkommenheit. Ich habe es bereits gesagt: Der Katastrophenschutz AFAD ist ein Papiertiger. Er verfügt über keine Ausstattung und ist nicht in der Lage, zu funktionieren. Die neuen Verantwortlichen wissen nicht, was sie tun sollen. Die meisten von ihnen haben keine Ausbildung. Das einzige, was an ihnen getestet wurde, war ihre Unterstützung für die AKP. Ihre Einsetzung basiert darauf und nicht auf ihrer Kompetenz, ihrem Wissen oder ihrer technischen Ausbildung, um ihre Aufgaben zu bewältigen. Auch eine Ausrüstung auf der Höhe der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen existiert nicht.
Wie sah es in der Praxis aus?
Die Verantwortlichen sagten plötzlich, sie gingen nicht mehr zu den Ruinen. Sie ließen die Menschen wissentlich und willentlich sterben und sollten strafrechtlich verfolgt werden. Es reicht nicht aus, wenn sie zurücktreten. Sie haben nicht das Gewissen, zurückzutreten, sie müssen verurteilt werden. Denn in diesem Fall haben sie ihre Pflichten und Befugnisse missbraucht, indem sie die Menschen sterben ließen. Wir haben von Anfang an gesagt, dass die AKP-Regierung das Land mit ihrer neoliberalen Politik nicht nur in eine Wirtschaftskrise geführt hat. Sie hat das Land auch in eine politische Krise geführt. Wir haben gesehen, wie das präsidiale Regierungssystem, das alle Macht auf einen Mann konzentriert, mit diesem Erdbeben zusammengebrochen ist.
Wir gehen davon aus, dass Hunderttausende Menschen bei dem Erdbeben ums Leben gekommen sind. Ich glaube nicht, dass die Zahlen, die bekannt gegeben wurden, korrekt sind. Wir müssen sie mit vier multiplizieren. Der Hauptgrund für die hohen Verluste ist, dass die Institutionen nicht darauf vorbereitet waren. Sie werden sich erinnern, dass Erdoğan sagte: „Ich werde diesen Staat wie eine Aktiengesellschaft führen.“ Und tatsächlich arbeiteten alle Institutionen wie Teile einer Aktiengesellschaft. Warum gibt es den Roten Halbmond? Wir gehen zum Roten Halbmond, um Blut zu spenden. Der Rote Halbmond verkauft unser Blut. Das ist beispiellos in der Welt, es ist der Gipfel der Unmoral, ich finde nicht einmal Worte, um es zu beschreiben. Der Rote Halbmond hat Zelte verkauft, als es seine Aufgabe war, Zelte zu verteilen, das wurde dokumentiert. Sogar in dieser Situation gibt es Diebstahl. Die staatlichen Institutionen bestehlen das Volk.
Antakya ist eine kosmopolitische Stadt. Es gibt arabische Alawit:innen, Kurd:innen, Christ:innen, Armenier:innen, Jüd:innen und viele weitere ethnische und religiöse Identitäten. Ist diese Struktur nun in Gefahr?
Ja, es gibt diese Gefahr. Das ist die größte Sorge der Überlebenden des Erdbebens. Antakya ist, wie Sie gesagt haben, ein kosmopolitischer Ort. Es handelt sich um eine Stadt, in der alle sozialen Dynamiken und Völker mit ihrer eigenen Identität zusammenleben. Die Christen gehen in ihre Kirchen, sunnitische Muslime in ihre Moscheen, arabische Alawiten an ihre Schreine, Armenier und Suryoye in ihre eigenen Kirchen. Es ist eine Region, in der der Weihrauch der arabischen Alawiten brennt, der Gebetsruf des Muezzins erklingt und die Glocke gleichzeitig zum Gebet läutet. Der Staat hat in dieser Stadt schwerwiegende Provokationen verübt, die jüngste Provokation war das Reyhanlı-Massaker. Beim Reyhanlı-Massaker nahm Erdoğan die arabischen Alawiten ins Visier und behauptete: „53 meiner sunnitischen Landsleute wurden massakriert.“ Aber es handelte sich um arabischen Alawiten, die die Wunden von Reyhanlı versorgt haben und die ersten waren, die ihr Beileid bekundeten. Der Staat hat in Hatay in der Vergangenheit massive Provokationen durchgeführt, um die Geschwisterlichkeit der Völker zu stören, aber die Völker und Glaubensrichtungen hier haben diesen Provokationen keine Beachtung geschenkt. Es ist eine Stadt, die es geschafft hat, diesen Geist der Gemeinschaft zu erhalten.
Das soziale Leben ist in Antakya sehr ausgeprägt. Die Beteiligung von Frauen am gesellschaftlichen Leben liegt beispielsweise über dem türkischen Durchschnitt. Eine weitere Besonderheit von Antakya sind Natur und Küche, weshalb es hier einen Zustrom von Touristen gibt. Natürlich sind all diese Dinge durch das Erdbeben stark erschüttert worden. Die alten Häuser von Antakya waren Orte, die das ursprüngliche soziale Gefüge von Antakya widerspiegelten, und dieses Gefüge wurde weitgehend zerstört. Die 600 Jahre alte Habibi Neccar Moschee wurde abgerissen. Hatay war 1938 neun Monate lang unabhängig. Nun wurde ein sehr wichtiges Gebäude, der Rat von Hatay, zerstört. Auch die Ata-Brücke, einer der historischen Orte von Antakya, wurde bei dem Erdbeben zerstört. Kurz gesagt, der Staat will mit diesem Erdbeben das erreichen, was er seit 1939 durch Migration und die Veränderung der demografischen Struktur nicht erreichen konnte.
Eine letzte Frage: Es gibt Behauptungen, dass in Hatay dschihadistische Söldner aus Syrien angesiedelt und die Bevölkerung aus der Region gedrängt werden soll. Ist eine solche Situation möglich?
Wie Sie wissen, grenzt der syrische Distrikt Idlib, der von dschihadistischen Söldnergruppen gehalten wird, an Hatay. Diese dschihadistischen Söldnergruppen sitzen dort fest und suchen nach neuen Siedlungsgebieten. Eine der Hauptsorgen der Menschen ist tatsächlich, dass sie zur Migration gezwungen und diese Söldner an ihrer Stelle angesiedelt werden. Sie fürchten, dass selbst wenn sie nicht zur Migration gezwungen werden, Seite an Seite mit den Dschihadisten leben müssen. Das sind die Hauptsorgen der Gesellschaft hier. Ich habe diese Bedenken auch im Parlament geäußert und darauf hingewiesen, dass diese Bedenken berücksichtigt werden müssen. Ich glaube nicht, dass die AKP-Regierung in der Lage ist, diese Probleme zu lösen, im Gegenteil, ich sehe ein großes Potenzial für die Umsetzung dieser Maßnahmen.
Unser grundlegender Vorschlag als HDP lautet wie folgt: Wir müssen diese Stadt wieder aufbauen, und in diesem Sinne kommt den gesellschaftlichen Solidaritätsnetzwerken Verantwortung zu, aber gleichzeitig hat auch der öffentliche Sektor eine große Verantwortung. Während wir diese Stadt wieder aufbauen, werden wir auch unser Leben wieder aufbauen. Hierfür ist die Arbeit der Berufsverbände, die der Union der Kammern der türkischen Architekten und Ingenieure (TMMOB) angeschlossen sind, sehr wichtig. Es ist notwendig, dass der öffentliche Bereich ins Spiel kommt und für Erbebensicherheit sorgt. Gesellschaft und Natur müssen in den Mittelpunkt gestellt und gleichzeitig das städtische Gefüge wiederbelebt werden.