Gültan Kışanak: Wir werden uns dem Imperium der Angst nicht unterwerfen

Der als Kobanê-Verfahren bekannte Schauprozess gegen die kurdische Opposition in der Türkei wird mit der kämpferischen Verteidigung von Gültan Kışanak fortgesetzt. Die ehemalige Bürgermeisterin von Amed fordert eine politische Lösung der kurdischen Frage.

Das Kobanê-Verfahren in Ankara wird mit der Verteidigung von Gültan Kışanak fortgesetzt. Die ehemalige Oberbürgermeisterin von Amed (tr. Diyarbakir) ist seit 2016 im Gefängnis und zusammen mit weiteren 107 Personen im Zusammenhang mit den Protesten in der Türkei während der Schlacht um Kobanê angeklagt. Von den Angeklagten sind 18 Politikerinnen und Politiker im Gefängnis. Gültan Kışanak nimmt über eine Videoschaltung aus dem Hochsicherheitsgefängnis Kandıra an der Verhandlung teil. Zum Auftakt ihrer ausführlichen politischen Verteidigungsrede am Montag sind Frauen aus der gesamten Türkei zu ihrer Unterstützung nach Ankara gereist, auch die Ko-Vorsitzenden der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan, nahmen an der Verhandlung teil.

Solidarische Prozessbeobachter:innen vor dem Verhandlungssaal im Haftkomplex Sincan

Gültan Kışanak erklärte zu Beginn ihrer Verteidigung, dass es im Kobanê-Prozess um drei Hauptthemen gehe: „Das eine ist die kurdische Frage, das zweite ist die Freiheit von Frauen. In diesem Verfahren ist der Kampf der Frauen für Freiheit angeklagt. Drittens zielt dieser Prozess darauf ab, die demokratische Politik zu beseitigen."

Wer sind Sie, dass Sie über mich urteilen?

Zu der Anklage gegen sie sagte die kurdische Politikerin: „Es handelt sich um einen politischen Prozess. Was uns vorgeworfen wird, sind unsere politischen Handlungen und Gedanken. Ich bin eine Frau, die noch nie jemanden geschlagen oder zu einem Verbrechen angestiftet hat. Wer sind Sie, dass Sie über mich urteilen? Wir werden seit mehr als sieben Jahren aufgrund einer politischen Verschwörung in Gefängnissen festgehalten, aber was ist draußen passiert? Die Wirtschaft ist zusammengebrochen, es gibt Krieg und Konflikte, das Land hat keine Beziehungen zu seinen Nachbarn, die Verfassung ist zusammengebrochen. Der Streit, den der Kassationsgerichtshof derzeit mit dem Verfassungsgericht über Can Atalay führt, hat den Punkt erreicht, an dem versucht wird, dem verfassungsmäßigen Rechtssystem des Landes ein Ende zu setzen. Beim Verfassungsgericht sind Entscheidungen über uns anhängig, aber aufgrund des politischen Drucks werden die Urteile nicht gefällt. Die verfassungsmäßige Ordnung ist zusammengebrochen. Brauchen wir das Verfassungsgericht noch oder nicht? Damit sind wir beim letzten Punkt der Diskussion angelangt, ob wir eine Verfassung brauchen oder nicht. Es gibt keine demokratische Gesellschaftsordnung mehr in der Türkei.“

Wir Frauen werden nicht schweigen

Die Türkei werde von Männern regiert, auch das Kapital stehe unter männlicher Kontrolle, so Gültan Kışanak: „Was machen Frauen, wenn sie der Gesetzlosigkeit ausgesetzt sind? Sie organisieren sich, sie gründen Vereine, sie erheben ihre Stimme, sie gehen auf die Straße und sagen: Stoppt die Gewalt. Wenn ihnen dieses Recht nicht zugestanden wird, bedeutet das, dass es keine Demokratie gibt. Man kann uns ins Gefängnis stecken, aber wir werden uns weiterhin auf der Straße zu Wort melden. Ich beglückwünsche alle Frauen, die sich von diesem Regime nicht zum Schweigen bringen lassen. Auch wir werden nicht schweigen, nur weil wir im Gefängnis sind. Es ist ein Imperium der Angst geschaffen worden, aber wir werden diese Angst überwinden, wir werden sie zerstören. Ihr könnt uns nicht die Freiheit der Gedanken und der Meinungsäußerung nehmen, ihr könnt sie nicht kriminalisieren. Ihr könnt uns nicht dafür verurteilen, dass wir nicht so denken wie die Regierung. Wir werden uns diesem Imperium der Angst nicht unterwerfen. Die einzige Möglichkeit, es zu besiegen, besteht darin, mutig zu sein und sich diesem Despotismus zu widersetzen.“

Die kurdische Frage kann und muss gelöst werden

Gültan Kışanak wies darauf hin, dass sie bereits nach dem Putsch von 1980 Verfolgung erlebt und der Folter des leitenden Offiziers Esat Oktay Yıldıran im Militärgefängnis von Amed widerstanden habe. „Wer mich heute mit einer Gefängniszelle einschüchtern will, sollte wissen, dass Esat Oktay mir keine Angst gemacht hat“, betonte die Politikerin. Wie auch ihre Mitangeklagten forderte Gültan Kışanak eine politische Lösung der kurdischen Frage und sagte: „Es gibt nichts, was wir nicht lösen können, solange wir aufrichtig sind.“

Die Verteidigung von Gültan Kışanak wird am Mittwoch fortgesetzt.