Der Menschenrechtsanwalt Can Atalay ist in der Türkei vergangenes Jahr im wiederaufgerollten Gezi-Verfahren zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Justiz beschuldigt ihn und sechs weitere Personen, dem im selben Prozess wegen eines versuchten Sturzes der Regierung zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilten Kulturförderer Osman Kavala geholfen zu haben. Der türkische Kassationshof hat das Urteil im September bestätigt.
Bei der Parlamentswahl am 14. Mai wurde Atalay für die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri heraus in die Nationalversammlung gewählt. Seine Anwälte beantragten daraufhin beim Kassationshof in Ankara die Freilassung des Abgeordneten. Das Kassationsgericht wies den Antrag zurück und entschied, dass Atalay das parlamentarische Mandat entzogen werden muss. Dafür ist wiederum das Parlament zuständig, das noch keine Entscheidung getroffen hat.
Das türkische Verfassungsgericht hingegen stellte auf Antrag von Atalay fest, dass sein passives Wahlrecht und sein Recht auf politische Betätigung verletzt wurden, und ordnete seine Freilassung an. Die Entscheidung wurde dem zuständigen Strafgericht in Istanbul übermittelt, das den Haftbefehl hätte aufheben müssen. Stattdessen gab das Istanbuler Gericht den Fall an den Kassationshof weiter, der das Urteil des Verfassungsgerichts nicht anerkannte und Strafanzeige gegen die Verfassungsrichter stellte. Diese hätten die Verfassung verletzt und auf illegale Weise ihre Kompetenzen überschritten, teilte der Kassationshof am Mittwoch mit.
Das Vorgehen stößt auf scharfe Kritik. Oppositionsparteien und Anwaltsorganisationen bezeichneten die Missachtung des Urteils des Verfassungsgerichts als juristischen Putsch und faktische Ausschaltung der höchsten rechtlichen Instanz in der Türkei. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel sprach von einem Angriff auf die verfassungsrechtliche Ordnung und berief eine Fraktionssitzung ein.
Die HEDEP beantragte eine Dringlichkeitssitzung im Parlament und erklärte: „Die höchste juristische Instanz ist nicht der Kassationshof, sondern der Verfassungsgerichtshof.“ Der Konflikt zwischen den Gerichten sei politisch herbeigeführt worden und stelle eine extrem gefährliche Entwicklung für die Zukunft des Landes dar. Der Vorstand und die Fraktion der HEDEP beraten auf einer Sitzung in Ankara über das weitere Vorgehen.