Seit gestern läuft im türkischen Parlament die Debatte zum Entwurf der Regierung über eine Änderung im Strafvollzugsgesetz, um eine Ausbreitung des Coronavirus in Gefängnissen zu verhindern. Bis zu 100.000 der rund 300.000 Gefangenen in der Türkei könnten damit in den Hausarrest verlegt oder sogar komplett entlassen werden. Die Maßnahme soll offiziell vor allem für Mütter, die gemeinsam mit ihren Kindern inhaftiert sind, sowie die Risikogruppen gelten: Menschen mit Vorerkrankungen und solche, die älter sind als sechzig Jahre.
Aber auch Sexualstraftäter, Mörder und Drogendealer - „sofern sie das Gewissen der Gesellschaft nicht verletzt haben“, würden von der Regelung profitieren. Einige Gruppen jedoch sollen ausdrücklich ausgenommen werden, allen voran politische Gefangene wie Journalist*innen, Menschenrechtler*innen und oppositionelle Politiker*innen. Auch wenn unter ihnen Menschen sind, die explizit zur Risikogruppe gehören – Selahattin Demirtaş zum Beispiel, der unter pulmonaler Hypertonie (Lungenhochdruck) und dem Schlafapnoe-Syndrom leidet, oder der 62-jährige Bürgerrechtler und Kulturmäzen Osman Kavala, werden in ihrem Fall medizinische Faktoren ausgeblendet. Denn an erster Stelle steht bei dem Gesetzesentwurf der AKP und ihrem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP immer noch die Straftat. Die unter fingierten Terrorvorwürfen eingesperrten politischen Gefangenen sollen der Pandemie ausgeliefert werden. Wie es die Gefängniskomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Partei der freien Frau in Kurdistan (PAJK) ganz treffend formulierten: „Der türkische Staat bedient sich der Krise als Nährboden für einen kurdischen und politischen Genozid“.
Massensterben in den Gefängnissen
Die Rechtsanwältin und HDP-Abgeordnete Züleyha Gülüm nennt den Entwurf für das neue Strafvollzugsgesetz ein Todesurteil und warnt vor einem Massensterben in den Haftanstalten der Türkei. Die von der Regierung in Gesetzesform verhängte Diskriminierung und fehlende Maßnahmen zum Schutz der Gefangenen könnten zu einer Vielzahl von Toten unter den Gefangenen führen, sagt die Juristin.
Gülüm kritisiert zudem, dass bei der Ausarbeitung des neuen Strafvollzugsgesetzes die Anwaltskammern, Menschenrechts- und Frauenorganisationen nicht einbezogen worden sind. Aber vor allem die Meinung der gesamten Gesellschaft sei in solch einem Prozess von enormer Bedeutung. „Da aber schon die Vorbereitungsphase für die Gesetzesänderung so antidemokratisch wie eh und je verlief, ist es auch nicht verwunderlich, dass Institutionen, die auf diesem Gebiet arbeiten, nicht berücksichtigt werden und es auch keine einzige positive Regelung für politische Gefangene gibt.”
Ein Spiegelbild von Hass und Wut
Gülüm äußert, dass die türkische Justiz nicht erst seit gestern mit zweierlei Maß messe und Regelungen im Strafvollzug, die im Widerspruch zum verfassungsmäßigen Grundsatz der Gleichheit stehen, zur Norm gehörten. „Denn die Justiz stellte in der Türkei von Anfang an das Werkzeug dafür dar, die gesellschaftliche Opposition zum Schweigen zu bringen”. Die Juristin macht auf systematische Disziplinarstrafen aufmerksam, denen politische Gefangene ausgesetzt sind: „Dabei handelt es sich um an den Haaren herbeigezogene Tatbestände und Sanktionen, die nicht dem Recht in seiner eigentlichen Bedeutung entsprechen. Sie werden meist angewandt, eine Begründung zu schaffen, um eine vorzeitige Entlassung unter Auflagen zu verhindern.“
Gülüm weist auf die massive Überfüllung in den Haftanstalten und die dort herrschende Willkürjustiz, Repression und Rechtsberaubung hin, unter der die Gefangenen leiden: „Es gibt unzählige kranke Gefangene, viele von ihnen sind sogar schwer krank. Trotz gerichtsmedizinischer Berichte, die bescheinigen, dass sie nicht in Haft verbleiben können, werden diese Gefangenen nicht freigelassen. Damit sind sie de facto zum Tode verurteilt. Der Gesetzentwurf, der von der Regierung trotz diesen Bedingungen eingebracht wurde, ist ein Abbild ihres Hasses und ihrer Wut auf die politische Opposition. Der Staat setzt eine Amnestie durch, bei der Mafia-Verbrecher und Vergewaltiger freikommen. Zu erwarten, dass dieser Plan Akzeptanz findet, ist absurd.“