Im Januar 2016 hatten mehr als 1.100 Intellektuelle die Petition „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ unterzeichnet und das Ende der Gewalt gegenüber der kurdischen Bevölkerung gefordert. Wissenschaftler*innen von 89 Universitäten riefen die türkische Regierung dazu auf, die Friedensverhandlungen mit dem kurdischen Volk wiederaufzunehmen und der Vernichtungs- und Vertreibungspolitik in Nordkurdistan ein Ende zu setzen. Zum Zeitpunkt der Petition am 11. Januar 2016 dauerte die im Juni 2015 begonnene türkische Militärbelagerung in Städten wie Amed (Diyarbakir), Nisêbîn (Nusaybin), Cizîr (Cizre) und Şirnex (Şırnak) bereits mehr als sechs Monate an und hatte zahlreiche Todesopfer gefordert. Kurz nach Veröffentlichung der Petition verkündete der türkische Präsident Erdoğan, dass die Unterzeichnenden, die eine „Bande ignoranter, dunkler Gestalten“ und „Landesverräter“ seien, „dafür bezahlen“ müssten. Es bestehe kein Unterschied, „ob jemand Kugeln im Namen einer Terrororganisation schießt oder ob er Propaganda für sie macht“, sagte der AKP-Chef damals und forderte: „Wer das Brot dieses Staates isst, aber ihn verrät, gehört bestraft“. Die Justiz müsse alles Nötige gegen diesen „Verrat“ von „Pseudo-Wissenschaftlern“ unternehmen. Später stieg die Zahl der Unterschriften auf über 2200.
Bisher 185 Urteile
Knapp 700 „Friedens-Akademiker“ mussten seitdem vor Gericht erscheinen. In 185 Fällen ergingen Urteile zu Haftstrafen von 15 bis 36 Monaten wegen der Verbreitung von „Terrorpropaganda“. Die anderen Verfahren dauern noch an. Die Istanbuler Politikwissenschaftlerin Füsun Üstel ist die erste Betroffene, die nach dem Scheitern eines Berufungsverfahrens ihre Strafe antreten musste. Ein Istanbuler Gericht hatte sie zu einem Jahr und drei Monaten Haft verurteilt. Seit Mai saß die Akademikerin im Frauengefängnis von Eskişehir. Am Montag ist Üstel vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Der Mathematiker Tuna Altınel, der den Friedensappell „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ verfasst hatte, befindet sich unterdessen weiterhin in Haft. Der Professor für Mathematik an der Universität Lyon I war am am 10. Mai in der westtürkischen Stadt Balikesir festgenommen worden, nachdem er die Polizei aufgesucht hatte, um sich über die Ausreisebestimmungen zu informieren, weil sein Reisepass zuvor für ungültig erklärt worden war. Einen Tag nach der Festnahme wurde Altınel inhaftiert und in das Typ-L-Gefängnis in Kepsut überstellt. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Wissenschaftler aufgrund seiner Teilnahme an einer Konferenz in Frankreich „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor. Am 30. Juli findet in Balikesir der Prozess gegen Altınel statt. Im Zusammenhang mit der Friedenspetition wurde der Akademiker bereits zu einer 15-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt.