„Das Regime kann durch Gewalt keine Legitimität herstellen“

Der Sieg der CHP bei der Kommunalwahl hat den Nimbus der Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert. Erdoğan ist nicht länger unantastbar und wird seine Legitimität selbst mit nackter Gewalt nicht wiederherstellen können, sagt Pelin Kahiloğulları (TÖP).

TÖP-Sprecherin Pelin Kahiloğulları

Mehr als ein Monat ist seit den Kommunalwahlen in der Türkei vergangen. Erdoğans AKP erlitt bei der Abstimmung am 31. März das größte Wahldebakel seit zwei Jahrzehnten: Der Sieg der CHP hatte den Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimechefs erschüttert, seine islamistisch-konservative Partei wurde erstmals seit ihrer Gründung 2002 nur zweitstärkste Kraft. Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und der gesamten Region machen aber klar, dass Erdoğan und Konsorten nicht bereit sind, ihre Macht abzugeben und die Durchsetzung ihrer Interessen gefährdet sehen. Die Kriegs- und Repressionspolitik wird beharrlich ausgeweitet.

Pelin Kahiloğulları, eine der Sprecherinnen der Partei für soziale Freiheit (TÖP), meint, dass Erdoğan seinen Zenit überschritten hat. Die 1990 in Hatay geborene Politikerin räumt zwar ein, dass die AKP-Regierung seit den Gezi-Park-Protesten vor elf Jahren jede Niederlage überwinden und wieder auf die Beine kommen konnte. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen hätten nun jedoch deutlich gezeigt, dass Erdoğan nicht mehr unantastbar sei und für die Opposition echte Chancen bestünden, einen radikalen Kurswechsel in der Türkei durchzusetzen.

Die TÖP (tr. Toplumsal Özgürlük Partisi) wurde 2020 gegründet. Sie ging aus der Plattform für soziale Freiheit hervor, die eine Abspaltung der Partei des sozialistischen Wiederaufbaus (SYKP) ist. Die TÖP ist Mitglied des HDK (Demokratischer Kongress der Völker), der das Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politisch Handelnden ist, aus dem die HDP 2012 hervorgegangen ist, und Teil der Wahlallianz „Bündnis für Arbeit und Freiheit“. Sie setzt sich für eine demokratische Türkei ein, in der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle gelten, und steht für Sozialökologie, sozialistischen Feminismus und das friedliche Zusammenleben verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen. | Foto: Kundgebung zum 1. Mai in Istanbul © ANF/ Zeyno Kuray


„Das Regime hat seine Legitimität verloren“

„Das AKP-Regime hatte bereits vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr massiv an Legitimität eingebüßt und konnte nur durch intensiven Betrug verhindern, zu verlieren“, erklärte Kahiloğulları im ANF-Gespräch mit Blick auf das politische Klima der Türkei. Darüber hinaus habe die AKP damals mit etlichen Maßnahmen im Vorfeld der Wahlen neue Beschäftigungsfelder eröffnet, die Arbeitslosigkeit scheinbar gesenkt und die Folgen der ökonomischen Krise teilweise abgeschwächt. Allerdings hätten die Menschen dafür nach den Wahlen einen hohen Preis zahlen müssen. So habe die AKP aber eine Situation und eine Niederlage, wie bei den Wahlen jetzt, verhindern können.

„Erdogan ist kein starkes verbindes Element mehr“

Kahiloğulları beschrieb folgende Faktoren als entscheidend für die aktuelle Niederlage der AKP: „Ein Faktor ist die Verschärfung der Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf das Alltagsleben. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Verelendung von Millionen von Menschen, einschließlich der Rentner, kommt zu den täglich steigenden Lebenshaltungskosten hinzu. Der auch als Mehmet-Şimşek-Programm (Mehmet Şimşek ist Erdoğans Finanzminister, Anm. d. Red.) bezeichnete Wirtschaftsplan zur Vermehrung des Reichtums des Kapitals (tr. „Orta Vadeli Program“, kurz OVP) und der 12. Entwicklungsplan haben die Verarmung noch weiter beschleunigt. Dazu kommt, dass der Betrug mit ein paar Punkten, so wie er bei der Präsidentschaftswahl praktiziert wurde, bei diesen Wahlen nicht möglich war.“ Ein weiterer Punkt liege in der Tatsache, dass Erdoğans „Führungsrolle“ – obschon er im Wahlkampf durch nahezu jede Stadt tourte – relativ schnell zu schwächeln begann, da der CHP-Politiker und Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu als alternative Führungsperson in den Vordergrund getreten ist.

„Es wird schwer sein, nun wieder Legitimität herzustellen“

Pelin Kahiloğulları stellte fest, dass die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 31. März 20204 und der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015 mit gewissen Abstrichen durchaus verglichen werden könnten. Sie führte aus: „Nach dem 7. Juni ließ sich ein ähnlicher Übergang von moralischer Kraft auf die gesellschaftliche Opposition feststellen. Ich muss jedoch betonen, dass der Machtverlust und die Legitimationskrise der Regierung heute tiefer sind als damals. Wenn wir uns erinnern: Als die AKP damals vorgebliche Verhandlungen für eine große Koalition mit der CHP führte, traf sie im Hintergrund die Vorbereitungen dafür, die Republik in ein Land der Bomben zu verwandeln. Sie versuchte, die Macht, die sie am 7. Juni verloren hatte, wiederzuerlangen, indem sie mit aufeinanderfolgenden Anschlägen in Diyarbakır, Suruç und Ankara einen ‚Schockeffekt‘ erzeugte. Sie nutzte also direkte Gewalt. Wie wir wissen, konnte das Regime so sein Ziel mit den Wahlen vom 1. November 2015 erreichen. Heute ist es für die herrschenden Kräfte sehr viel schwieriger, die Legitimität durch nackte Gewalt wiederherzustellen. Natürlich sage ich nicht, dass es nicht möglich ist, schließlich ist die Realität der Regierung und des Staates dafür geeignet. Aber der Weg, der gewählt wurde, um aus der Wirtschaftskrise herauszukommen, wird Armut und Arbeitslosigkeit vertiefen und die Wut der Menschen vergrößern.

„Gewalt führt ins Chaos“

Der sich ausbreitende Widerstand der Arbeiter:innen, das anhaltende Freiheitsstreben des kurdischen Volkes, die derzeitige Situation der Frauen, der Alevit:innen, der Umweltschützer:innen, der Bäuer:innen, die ihr Land verteidigen, und der jungen Studierenden wird der Regierung auch den Weg der nackten Gewalt zur Sackgasse machen. Er wird den Weg für eine vollständige Aufweichung der Macht ebnen. Einer solchen gesellschaftlichen Realität nur mit nackter Gewalt zu begegnen, wird die Regierung in eine Bedrängnis manövrieren, in der sich die Gewalt immer weiter ausbreitet und sogar willkürlich wird, und wird die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Land ins Chaos stürzt.“

„Ein neues gesellschaftliches Bewusstsein“

Kahiloğulları erinnerte an die besondere Phase vor den Wahlen 2015, die Gezi-Proteste und die breite Suche nach einem demokratischen Leben gemeinsam mit dem kurdischen Freiheitskampf: „Damals konnten wir das für so eine kritische Zeit nötige politische Bündnis und ein Programm, in dem sich das Bündnis konkret ausdrückte, nicht vorlegen. Trotzdem setzten und setzen die Völker der Türkei, die Kurd:innen, die Arbeiter:innen, die Frauen, die Jugendlichen, die Umweltaktivist:innen ihren Widerstand fort, indem sie ihre Forderungen manifestieren. Manchmal trat der Widerstand in den Vordergrund, manchmal zog er sich zurück.  Ich bin der Meinung, dass dieser Prozess des Widerstands, der in gewisser Weise seit Gezi anhält, ein neues soziales Bewusstsein geschaffen hat. Demgegenüber können wir nicht ignorieren, dass der Zustand der ununterbrochenen Gewalt und Spannung gleichzeitig die Werte auflöst, die die Gesellschaft zusammenhalten, und einen sozialen Verfall bewirkt. Daher muss ich feststellen, dass wenn die derzeitigen wütenden Reaktionen des Volkes nicht in eine breite demokratische Position eingebunden werden können, sich der besagte Verfall schnell verstärken kann und von hier aus ein für den Faschismus geeignetes Umfeld geschaffen wird.“