Cansu Özdemir: Probleme können nur kollektiv gelöst werden

Im Februar finden in Hamburg Landeswahlen statt. Die Linksfraktionsvorsitzende Cansu Özdemir spricht im Interview über ihre politische Arbeit und über Glück, Wut, Verzweiflung, Stolz und Hoffnung.

Am 23. Februar 2020 wird in Hamburg ein neues Landesparlament gewählt. Cansu Özdemir zog 2011 erstmalig als Abgeordnete in die Hamburgische Bürgerschaft und ist seit 2015 Ko-Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. Dilan Karacadağ von der Tageszeitung Yeni Özgür Politika hat sie in einem Interview nach ihren Plänen und Erfahrungen gefragt.

Sie kandidieren das dritte Mal bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen. Laut einer Umfrage sind Sie die drittbeliebteste Politikerin Hamburgs. Zu Beginn Ihrer Abgeordnetentätigkeit waren Sie 22 Jahre alt. Sind junge Menschen in der Hamburger Politik ausreichend vertreten? Was tun Sie dafür?

Der Altersdurchschnitt im Hamburger Parlament liegt bei 52,6. Ich gehöre mit meinen 31 Jahren zu den fünf jüngsten Abgeordneten des Parlaments und wurde mit 26 Jahren zur jüngsten Fraktionsvorsitzenden bundesweit gewählt und damit auch zur ersten kurdischen Vorsitzenden in Deutschland.

Der weibliche Anteil liegt bei 38 Prozent. Die Statistik zeigt, dass die deutschen Parlamente noch immer größtenteils von älteren deutschen Männern dominiert werden. Gleichzeitig zeigt die weltweite Klimabewegung „Fridays for Future“, dass größtenteils junge Menschen auf der Straße und in anderen gesellschaftlichen Bereichen Politik machen und für einen Systemwechsel kämpfen. Die Parlamente müssen jünger, vielfältiger und weiblicher werden. Junge Menschen, vor allem junge Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, müssen auch in der Politik, obwohl Deutschland von einer Frau regiert wird, dreimal so hart arbeiten, um durchzudringen. Für eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern ist es fast unmöglich, als Parlamentarierin in Hamburg zu arbeiten. Es gibt keine Kinderbetreuung und die Sitzungen gehen bis in die späten Abendstunden. In manchen Parlamenten ist es verboten, das Kind ins Plenum mitzunehmen. Frauen werden auf diese Weise diskriminiert und ihnen wird die Chance genommen, eine Rolle in der Politik zu spielen.

Als ich erstmalig zur Abgeordneten gewählt wurde, war ich gerade einmal 22 Jahre alt und habe oft spüren müssen, dass meine Mühe ignoriert oder kleingeredet wird. Es war ein durchgehender Kampf, den ich gewinnen wollte. Ich denke, dass die aktuelle Statistik, laut der ich die drittbeliebteste Kandidatin bin, zeigt, dass die Hamburgerinnen und Hamburger meine Arbeit und Mühe wahrnehmen und schätzen.

Ich habe in den letzten Jahren viele junge Menschen, vor allem Schülerinnen und Schüler, in meine politische Arbeit miteinbezogen. Einige von ihnen haben bei mir ein Praktikum absolviert. Viele junge Menschen schreiben mir, dass sie auch in die Politik möchten. Andere fragen, ob ich mich mit ihnen treffen kann, um ihnen bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten für die Universität zu helfen. Das tue ich auch immer. Zweimal im Jahr organisiere ich politische Fahrten nach Berlin in den Bundestag und jedes Mal kommen 50 junge Menschen mit.

Manchmal kommen auch junge Frauen zu mir, die Probleme mit ihren Familien haben und sich Unterstützung wünschen oder einen Rat. All diese Begegnungen sind sehr wertvoll und ich schätze das Vertrauen, dass mir entgegengebracht wird. Mittlerweile habe ich ein Netzwerk aus jungen Menschen und lerne sehr viel von ihnen. Sie lassen mich in ihre Welt und das ist eine Bereicherung für mich persönlich und für meine Arbeit.

Sie sind Fachsprecherin Ihrer Fraktion für Soziales, Inklusion, Frauen und Queer und engagieren sich unter anderem für Menschen mit Migrationshintergrund und Obdachlose. Was hat Hamburg zu diesen Themen zu bieten?

Hamburg ist eine international beliebte Hafenmetropole mit über 1,8 Millionen Einwohner*innen. Sie ist als weltoffen bekannt und jedes Jahr kommen Millionen Touristen. Außerdem ist Hamburg bekannt für seine starke antifaschistische Szene. Viele Hamburger*innen sind solidarisch mit den YPG/YPJ und haben während der G20-Demonstrationen aus Solidarität und als Zeichen gegen Erdoğans Besuch die Fähnchen geschwenkt. Die Menschen leben gerne hier, weil Hamburg auch viele Grünflächen hat und am Wasser liegt. Hunderte Kulturen treffen hier aufeinander.

Hamburg ist aber auch eine sozial gespaltene Stadt. Mit 42.000 Millionären ist Hamburg eine reiche Stadt. Im Vergleich dazu leben 50.000 Kinder von Hartz 4. Während im reichen Stadtteil Blankenese fast kein Kind von Grundsicherung leben muss, sind es in armen Stadtteilen fast 50 Prozent der Kinder.

Über 2000 Menschen sind obdachlos, seit der Finanzkrise 2007/08 kommen immer mehr arbeitssuchende Menschen aus Ost-und Südosteuropa nach Hamburg und verelenden auf der Straße. Im letzten Jahr sind sechs obdachlose Personen sogar gestorben. Fast 20.000 leben in Unterkünften, die meisten von ihnen sind Flüchtlinge. 32.000 Hamburger*innen sind lange erwerbslos. Von 2011 bis 2019 sind die Mieten um 21 Prozent gestiegen. Hamburg ist auch die Hauptstadt der Altersarmut. Immer mehr Rentner*innen leben in Armutsverhältnissen.

Für Familien mit mittleren und niedrigen Einkommen ist der Alltag nicht einfach zu bewältigen. Die Hälfte der Hamburger*innen befürchtet, eine Zukunft in Hamburg nicht mehr finanzieren zu können. 

Was sind aus Sicht Ihrer Partei die dringendsten Probleme Hamburgs und wie wollen Sie diese Probleme lösen?

Das wichtigste Thema für die Hamburger*innen sind die steigenden Mieten. Deshalb fordern wir wie in Berlin einen Mietendeckel. Das bedeutet, die Mieten dürfen in den nächsten fünf Jahren nicht steigen. Außerdem ist fast die Hälfte der Hamburger*innen angewiesen auf eine sozial geförderte Wohnung. Die Regierung muss aufhören, so viele unbezahlbare Wohnungen zu bauen. 50 Prozent des Neubaus müssen Sozialwohnungen sein.

Auch die Gesundheit ist mittlerweile Luxus geworden. Wer krank ist und ein Krankenhaus aufsucht, weiß, dass die Gesundheitsversorgung enorm verbessert werden muss. Mittlerweile warten Menschen selbst bei akuten Fällen stundenlang, bis sie behandelt werden. Meistens werden sie wieder weggeschickt mit Schmerzmitteln. Der Personalmangel bedeutet viel Stress für das Personal und eine Gefahr für die Patient*innen. In den ärmeren Stadtteilen ist die ärztliche Versorgung viel schlechter als in den reichen Stadtteilen. Deshalb fordern wir städtische Gesundheitszentren in allen Stadtteilen, die ohne lange Wartezeiten Beratung und ärztliche Hilfe anbieten.

Außerdem setzen wir auf einen Klimaschutz, den sich alle leisten können. Langfristig muss der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden und kostenlos sein, damit die Menschen nicht mehr mit dem Auto fahren müssen. Das würde den Geldbeutel und das Klima schonen. Um die Armut in der Stadt langfristig bekämpfen zu können, brauchen wir eine umfangreiche Anti-Armutsstrategie. Der Staat muss seinen Bürger*innen all ihre Rechte gewährleisten und darf sie nicht als Wohltaten abtun. Das Recht auf Wohnen, das Recht auf gute gesundheitliche Versorgung und das Recht, in Würde zu altern, muss gewährleistet werden. Dafür kämpfen wir seit Jahren und werden auch weiterhin die Stimme im Parlament für soziale Gerechtigkeit sein.

Wie ist die Situation der Fraktion DIE LINKE in der Bürgerschaft? Welche Ziele haben Sie für die diesjährige Wahl festgelegt?

Wir sind die einzige linke Oppositionsfraktion bei insgesamt sechs vertretenen Fraktionen. 2015 erreichten wir 8,4 Prozent und gewannen elf Sitze. Eine Abgeordnete ist zur SPD übergetreten. Wir haben bei vielen wichtigen Themen ein Alleinstellungsmerkmal. Ich möchte einige Beispiele nennen:

Jedes Jahr werden mehr als 1.000 Container mit Bomben, Gewehren und anderem Kriegsgerät im Hamburger Hafen umgeschlagen. Vieles davon landet in Kriegsgebieten, wohin Tausende Hamburger*innen mit Sorge blicken, weil ihre Familien dort noch wohnen. Wir fordern, den Hamburger Hafen für Waffenexporte zu sperren.

Während des G20-Gipfels haben wir uns als einzige Partei gegen den Gipfel in Hamburg positioniert und deutlich gemacht, dass Erdoğan, Trump und Putin nicht willkommen sind. Wir haben uns permanent für die Einhaltung der Grundrechte eingesetzt. Wir waren als Abgeordnete Tag und Nacht auf der Straße, um die Grundrechtsverletzungen durch die Polizei festzuhalten. Danach waren wir die einzige Fraktion im G20-Sonderausschuss, die ein ernsthaftes Interesse an der Aufarbeitung der Grundrechtsverletzungen gezeigt hat.

Wir kämpfen als einzige für soziale Gerechtigkeit, während die anderen Fraktionen die Reichen immer reicher machen möchten. Sie ignorieren permanent die Armut von Kindern und Senior*innen. Wer es ernst meint mit der Bekämpfung von Armut, führt einen Landesmindestlohn von 14 Euro ein und schafft die Hartz4-Sanktionen ab.

Momentan stehen wir in den Umfragen zwischen 11 und 13 Prozent. Bei 13 Prozent würden 15 Sitze auf uns fallen. Das würde bedeuten, dass wir sogar vor der CDU drittstärkste Partei wären und somit wahrscheinlich Oppositionsführer. Das wäre für die Linke in Hamburg ein historisches Ergebnis.

Eine Koalition mit SPD und Grünen ist momentan in Hamburg ausgeschlossen. In Berlin und Bremen ist die Bereitschaft von SPD und Grünen da, wirklich etwas zu ändern. In Berlin war das der Mietendeckel, in Bremen steht die Kinderarmut im Fokus. DIE LINKE ist aber kein Mehrheitsbeschaffer, der nur dazu da ist, die bestehende Politik fortzusetzen. Wir würden in einem rot-rot-grünen Dreierbündnis in Hamburg keine starke Kraft, sondern nur ein kleines Rädchen sein. Da erreichen wir in der Opposition mit Druck viel mehr.

Gab es in Ihrem politischen Leben auch Sachen, die Sie tun wollten, aber nicht geschafft haben? Was ist Ihr persönliches politisches Ziel?

Es gab immer wieder Menschen, die Unterstützung brauchten. Ich konnte nicht allen helfen, habe es jedoch immer versucht. Wenn ich an meine Grenzen gekommen bin und nicht weiter helfen konnte, hat mich das immer sehr lange beschäftigt.

Ein Projekt liegt mir sehr am Herzen. Mittlerweile gibt es mehr Abgeordnete in Deutschland, die einen kurdischen Hintergrund haben. Mein nächstes Ziel ist es, ein deutschlandweites Netzwerk kurdischer Abgeordneter aufzubauen, um gemeinsam und organisiert zu handeln und politische Projekte zu entwickeln. Organisiert können wir in schwierigen Phasen schneller und stärker reagieren und handeln.

Können Sie Erfolgsgeschichten nennen, die von Ihnen oder Ihrer Partei angestoßen oder durchgesetzt wurden?

Nachdem mehrere Kinder durch Vernachlässigung und oder Misshandlung in ihren Familien gestorben sind, haben wir lange Zeit darauf hingewirkt, dass eine Enquete-Kommission für Kinderschutz eingerichtet wird, um präventive Maßnahmen zu erarbeiten. Die Regierung hat sich lange Zeit sich geweigert, am Ende musste sie einsehen, dass es notwendig ist.

Wir haben außerdem jahrelang für einen Landesmindestlohn von zwölf Euro für städtische Beschäftigte gekämpft und diesen aus der Opposition heraus durchgesetzt.

DIE LINKE ist während des G20-Gipfels und hinterher bei der Aufarbeitung stark für die Grundrechte eingetreten. Dadurch haben wir die Perspektive der Demonstrant*innen in das Parlament gebracht, die Grundrechtsverletzungen erlitten haben.

Ich persönlich habe immer versucht, verschiedene Ansätze miteinander zu verbinden. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, den kurdischen Feminismus, der als „Jineoloji“ oder „Wissenschaft der Frau“ bezeichnet wird, bekannt zu machen und mit anderen feministischen Ansätzen zu verknüpfen. Deshalb habe ich im Parlament verschiedene Veranstaltungen dazu organisiert, zum Beispiel zur Situation von Frauen während der Ausgangssperre in Cizîr (Cizre), zur Frauenrevolution in Rojava oder zur Situation der Frauen und Mädchen in Şengal. Ich denke, dass ich damit einen Beitrag leisten konnte.

Als Kind habe ich das Hamburger Parlament mit der Schulklasse besucht und es gab einen sehr großen und wunderschönen Festsaal. Man könnte hier schöne Feste feiern, dachte ich damals. Und als Abgeordnete hatte ich dann die Idee, das in Kurdistan, im Iran und vielen weiteren Gegenden gebräuchliche Neujahrsfest (Newroz) am 21. März dort zu feiern. Normalerweise finden im Rathaus nur geschlossene Gesellschaften und Empfänge statt. Ich wollte aber das Parlament für alle Menschen öffnen. Wir feierten ein großes Newroz-Fest mit bis zu tausend Menschen verschiedener Herkunft. Wir organisieren es seitdem alle zwei Jahre und jedes Jahr fragen uns viele Menschen, wann es wieder stattfindet. Viele Hamburgerinnen und Hamburger wissen nun, was das Newroz-Fest ist und warum die Kurden es als ein politisches Fest feiern.

Ein Erlebnis werde ich nie vergessen. Am Tag der offenen Tür hatte der Hamburger Gehörlosenverband sich das Thema Kurdistan als Schwerpunkt gesetzt. Ich durfte als einzige Politikerin an dem Tag reden und habe drei Stunden lang die Geschichte und den Widerstand Kurdistans vorgetragen. Vor mir saßen 500 gehörlose Menschen, die der Übersetzung in Gebärdensprache gefolgt sind. Noch heute schreiben mir viele von ihnen und fragen, wie die Situation in Kurdistan ist.

Mehrere Menschen aus Hamburg sind in der Türkei verhaftet worden. Wie bewerten Sie die Beziehungen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik?

Die Bundesregierung hofiert einen Diktator und kriminalisiert kurdische Aktivist*innen. Ich erinnere an die Schließung des Mezopotamien-Verlags. Beschlagnahmt wurden Bücher, CDs und Dokumente in kurdischer Sprache. Sogar das Newroz-Fest, das wichtigste Fest der Völker im Mittleren Osten, sollte laut Bundesinnenministerium nicht stattfinden.

Das Vorgehen erinnert stark an das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die kurdische Sprache und Kultur. Die Politik der Bundesregierung in Bezug auf die Türkei ist heuchlerisch und feige. Mir ist als Politikerin klar, dass Außenpolitik immer interessengeleitet ist. Aber wenn Moral und Werte keine Rolle mehr spielen, wie aktuell bei der Bundesregierung, dann ist das eine Bankrotterklärung und eine Schande für die deutsche Außenpolitik. Innenpolitisch betrachtet ist es eine heftige Einschränkung von Grundrechten hier lebender Menschen. Die Bundesregierung unterstützt Erdoğan trotz allem wissentlich, einen islamistischen Diktator, der Journalist*innen, Abgeordnete, Bürgermeister*innen und andere kritische Menschen verhaftet, verfolgt und sogar mit dem Tod bedroht. Erdoğan hat unzählige Menschenleben auf dem Gewissen und lässt weiter Menschen brutal ermorden. Wer einen solchen Diktator unterstützt, stärkt ihn und seine islamistischen Terrorpartner. Wer einen solchen Diktator unterstützt, betreibt eine heuchlerische Politik, die viele Menschen das Leben kostet. Wer sich als Regierung auf die Seite eines solchen Diktators stellt, stellt sich gegen Demokratie, Frieden, Freiheit und die Emanzipation von Frauen im Mittleren Osten. Gleichzeitig wird der Kampf gegen islamistische Gruppen dadurch geschwächt. Wer einen solchen Diktator unterstützt, trägt dazu bei, dass Menschen wieder ihre Heimatländer verlassen und flüchten müssen.

Der Hamburger Verfassungsschutz hat Ihnen 2011 eine Nähe zur PKK unterstellt. Was ist aus dieser Anschuldigung geworden?

Zwei Tage nach meiner ersten Wahl begann der Verfassungsschutz eine diffamierende Kampagne gegen mich. Vor meiner Abgeordnetentätigkeit habe ich für die Yeni Özgür Politika als Korrespondentin gearbeitet und war Ko-Sprecherin des Kurdischen Frauenrates in Hamburg. Ich habe mit dem Frauenrat Kampagnen gegen Ehrenmorde, Zwangsverheiratung und Brautgeld organisiert. Gleichzeitig habe ich Demonstrationen angemeldet gegen die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Türkei. Das war für den Verfassungsschutz Grund genug, mich als gefährliche Person darzustellen, mich zur Zielscheibe zu machen und mich zu beobachten.

Infolgedessen begannen die Morddrohungen der türkischen Faschisten. Im Laufe der Zeit hat mir der Landesverfassungsschutz mitgeteilt, dass ich nicht mehr beobachtet werde und meine Daten gelöscht wurden. Ob dies der Wahrheit entspricht, weiß ich nicht. Jedenfalls bleibt der Verfassungsschutz lieber weiterhin auf dem rechten Auge blind und setzt seine Priorität da, wo keine Gefahr ist, weil es Diktator Erdoğan so eher gefällt. Aber das hat mich nicht zum Schweigen gebracht. Ich stehe hinter meiner Identität und hinter meinen Positionen.

Sie sind wegen eines Twitter-Fotos mit einer PKK-Fahne verurteilt worden. Von Faschisten, die der türkischen Regierung nahestehen, werden sie ständig bedroht. Ist es schwer, eine kurdische und linke Abgeordnete zu sein?

Ich hatte nie ein klassisches Abgeordnetenleben. Auf der einen Seite gab es die Morddrohungen türkischer Faschisten und die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in meinem Umfeld, auf der anderen Seite die Repression des deutschen Staates gegen mich. Sie müssen sich vorstellen, ich bin eine gewählte Abgeordnete eines deutschen Parlaments und zwei türkische Geheimdienstagenten spionieren mich aus, geben meine Informationen an den türkischen Staat weiter, suchen meinen Vater auf seiner Arbeitsstelle auf und mich in meinem Büro. Ich gebe die Informationen an die deutschen Sicherheitsbehörden weiter und es passiert erst einmal nichts. Einer von beiden kommt mit einer kurzen Haftstrafe davon und der andere wird noch nicht einmal angeklagt. Die beiden waren aber nur die Spitze des Eisbergs. Der Staat hat seine Abgeordneten und seine Bürger*innen vor Spionage und Angriffen ausländischer Geheimdienste zu schützen. Er darf nicht dabei zuschauen und dann auch noch Opfer zu Tätern machen. Rechtlich gesehen darf meine Tätigkeit als Abgeordnete nicht eingeschränkt werden. Aber dieses Recht konnte ich von Anfang an nicht wahrnehmen.

Trotz mehrerer Anfragen an die Sicherheitsbehörden über meine Gefährdungslage haben sie mir nie Auskunft darüber gegeben. In die Türkei kann ich auch nicht mehr reisen, das schränkt meine Arbeit als Abgeordnete ebenfalls ein.

Der Mord an Yüksel Koc, dem Ko-Vorsitzenden des kurdischen Dachverbands KCDK-E, konnte verhindert werden, weil die kurdische Community aufmerksam war und nicht weil die deutschen Sicherheitsbehörden ihren Job gemacht haben. Im Gegenteil, es gab immer starke Bemühungen, das Aufgedeckte unter den Tisch zu kehren.  

Der türkischen Regierung und auch der Bundesregierung waren meine Aktivitäten immer ein Dorn im Auge. Ich war nach dem furchtbaren Massaker der türkischen Armee in Roboskî, als die Mütter noch die zerfetzten Leichenteile ihrer Kinder einsammelten. Meinen Bericht schickte ich an den damaligen Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung. Dessen zynische Antwort war, hätte die PKK die Waffen niedergelegt, wäre niemand gestorben. Ich war 2013 auf dem Newroz-Fest in einem Bus, in dem der kurdische Politiker Ahmet Türk vom türkischen Militär verprügelt wurde. 2014 war ich in Suruç [kurdisch: Pirsûs] an der Grenze zu Kobanê, als der „Islamische Staat“ mit Unterstützung des türkischen Militärs versuchte die Stadt einzunehmen. Ich habe das Leid der ezidischen Frauen und Mädchen und den Erfolg der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ ins Parlament getragen. Kurz danach war ich dabei, als Anhänger des „Islamischen Staat“ den kurdischen Verein in Hamburg angriffen und mehrere Menschen verletzten. Ich habe Demonstrationen organisiert und Netzwerke mit aufgebaut für die Solidarität mit Kurdistan. Es passte weder der türkischen noch der deutschen Regierung, dass ich all das ins Parlament und in die Öffentlichkeit trug. Es passte ihnen nie, dass ich durch meine jahrelange Recherchearbeit die Strukturen des türkischen Geheimdienstes sowie die kriminellen und islamistischen Verbindungen in Deutschland aufdeckte. Türkische Faschisten standen vor meiner Bürotür, um mich einzuschüchtern. Ich habe sie jedes Mal ausgelacht.

Es passte ihnen auch nie, dass meine Partei sich für die Aufhebung des PKK-Verbotes einsetzt und die Waffenbrüderschaft der Bundesregierung mit Erdoğan kritisiert. Die Bundesregierung kommt bei jedem Skandal der AKP in Bedrängnis, weil der Druck der Gesellschaft ihre wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen bedroht.

Es wurde immer wieder versucht, mich einzuschüchtern. Zweimal eröffnete die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen mich. Einmal ging es um eine YPG-Fahne und beim zweiten Mal, weil ich auf Twitter ein Bild geteilt habe, auf der die PKK-Fahne zu sehen war. Ich wurde verurteilt und habe Widerspruch eingelegt. Ich werde den juristischen Weg weiterhin gehen, ich werde nicht aufgeben. Diese Verfahren und Einschüchterungsversuche richten sich nicht gegen Cansu Özdemir persönlich. Sie richten sich gegen die Menschen, deren Gedanken und Gefühle ich ausspreche, deren Willen ich vertrete. Die türkische Regierung möchte die Oppositionellen in Europa zum Schweigen bringen, sie möchte sie unterdrücken und ihnen Angst machen. Die beste Antwort auf diese Versuche ist es, sich zu organisieren, standhaft zu sein und den Kopf nicht zu beugen. Ich bin diesen Weg als kurdische Frau immer mit erhobenem Kopf gegangen. Vor manchen Debatten, in manchen Situationen war der Druck auf mich sehr stark, aber in diesen Situationen habe ich an all die kurdischen Feministinnen gedacht, an ihren unermüdlichen Kampf. Das hat mir immer Kraft gegeben und es hat meinen Glauben an eine freie und demokratische Gesellschaft ungebrochen gemacht. Ich hatte das Glück, in jungen Jahren die kurdische Revolutionärin Sakine Cansiz kennenzulernen. Ihr Kampf und ihr Widerstand haben mich sehr geprägt und ich schöpfe immer noch Kraft aus ihr und anderen Revolutionär*innen. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe nie Angst gehabt und werde auch nie Angst haben, im Gegenteil, jeder Einschüchterungsversuch hat mich stärker gemacht. Durch die Kampagnen gegen mich und die Verfahren sollte ich geschwächt werden, aber dass ich momentan hohe Beliebtheitswerte bei der Hamburger Bevölkerung habe, zeigt, dass das nicht gelungen ist. Ich habe nie etwas getan, um beliebt zu sein, ich habe alles aus Überzeugung getan. Zu Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit haben die anderen Parteien mich ignoriert, heute respektieren sie mich. Heute begrüßen mich deutsche Journalist*innen live bei TV-Interviews mit dem kurdischen Gruß „Rojbaş“.

Mir war klar, dass ich lange darauf hinarbeiten muss. Heute fragen mich viele Menschen, wie ich zum Beispiel in Talkrunden mit AKP-Vertretern so ruhig bleiben kann, oder wie ich in Zeiten wie dem völkerrechtswidrigen Angriff auf Rojava mit Geduld meine diplomatische Arbeit leisten kann. Ich habe gelernt, geduldig zu sein und nicht zu erwarten, dass man ein Ziel gleich morgen erreicht. Es kann sogar Jahre dauern.

All die Erlebnisse und Begegnungen haben mich sehr geprägt. Ich habe sehr oft Wut, Verzweiflung und Ohnmacht empfunden: Zum Beispiel in Roboskî oder als ich in Suruç sah, wie die Leichname von kurdischen Kämpfer*innen über die Grenze getragen wurden. Am meisten hat mich der Genozid an den Ezid*innen getroffen. Die Gespräche mit den betroffenen Familien, mit den Frauen und Mädchen, haben mir gezeigt, zu was Menschen fähig sind. Ich habe das erste Mal die Nerven verloren und geweint. Es hat mir in der Seele wehgetan. Umso mehr macht mich der Kampf der kurdischen Frauen und die Frauenrevolution in Rojava stolz. Es hat mir ein stärkeres Selbstbewusstsein gegeben.

Ihre politische Arbeit findet nicht nur in der Bürgerschaft statt, sondern in der Gesellschaft. Was bringt Ihnen das als Politikerin?

Ich finde es seltsam, wie viele Abgeordnete ihre Tätigkeit auf das Parlament begrenzen. Politik findet auf der Straße, in den Stadtteilen, außerhalb des Parlaments statt. In all meinen Fachbereichen arbeite ich mit Betroffenen und Expert*innen außerhalb des Parlaments zusammen. Ohne die Informationen und Erfahrungen der Menschen außerhalb des Parlaments kann ich sie weder vertreten, noch kann ich Politik weiter entwickeln und an ihren Bedürfnissen orientieren. Gesellschaftliche Probleme können nur kollektiv gelöst werden, Lösungen nur kollektiv entwickelt werden.

Zum Beispiel arbeite ich zum Bereich Menschen mit Behinderung. Ich habe einen Arbeitskreis mit Betroffenen und Expert*innen gegründet, der sich monatlich trifft. Da sitzen Blinde, Gehörlose, Menschen im Rollstuhl. Wir entwickeln zusammen parlamentarische Initiativen und Ideen für Veranstaltungen. Sie geben mir vor, welche Forderungen von ihnen ich ins Parlament tragen kann, und das tue ich, während sie oben sitzen und zuschauen.

Ich war viel in Deutschland und Europa unterwegs für Veranstaltungen und Vorträge. Mir haben viele kurdische Familien ihre Türen geöffnet. Ich habe mich immer gefühlt wie zu Hause bei meiner eigenen Familie. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Alle Familien haben ihre Spuren bei mir hinterlassen. Ich habe viel von ihnen gelernt und möchte mich auf diesem Wege bei ihnen bedanken.