Der „Feind“ ist links und internationalistisch

In den letzten Tagen und Wochen hat sich eine jahrelange politische Prioritätensetzung in der deutschen Innenpolitik herauskristallisiert.

Die Ereignisse der letzten Wochen in Ostdeutschland sind beunruhigend und haben bundesweit in vielen Städten zehntausende Antifaschist*innen auf die Straße mobilisiert. Anhänger*innen der AfD, Funktionäre der AfD und Neonazis instrumentalisierten den gewaltsamen Tod eines Mannes in Chemnitz und wenig später auch den gewaltsamen Tod eines 22-Jährigen in der Stadt Köthen. Neonazis und AfD-Anhänger*innen marschierten durch die Stadt und machten Jagd auf Migrant*innen, Journalist*innen mussten ihre Arbeit abbrechen, weil sie um Leib und Leben fürchteten, der „Hitlergruß“ wurde immer wieder gezeigt, obwohl er nach dem zweiten Weltkrieg verboten wurde. Die gewaltbereite rassistische Mobilisierung hat viele Menschen in der Bundesrepublik fassungslos gemacht. Fassungsloser machte die Überforderung der Polizei. Es hieß sie seien unterbesetzt gewesen.

Auf dem rechten Auge blind

Als sich wenig später der Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer, in seiner Regierungserklärung und der Bundesverfassungsschutzpräsident Maaßen zu den Vorfällen äußerten, konnte man nachvollziehen, warum die Polizei nicht die Präsenz und das Agieren zeigte, wie bei den G20-Protesten in Hamburg, bei anderen linken, internationalistischen und vor allem aktuell bei kurdischen Veranstaltungen und Demonstrationen. Wortwörtlich sagte Kretschmer: „Es gab keine Hetzjagd, keinen Mob, keine Pogrome.“ Maaßen zweifelte Medienberichte an, in denen ein Video einer Hetzjagd gezeigt worden war. Es lägen keine Belege für die Echtheit des Videos vor. Das nennt man seit der NSU-Mordserie auch „auf dem rechten Auge blind“ sein. Wenig später wurde sogar bekannt, dass Maaßen vor Veröffentlichung des Verfassungsschutzberichtes einem AfD-Abgeordneten Informationen mitgeteilt hat.

Keine plötzliche Erscheinung

Wir sehen hier keine plötzliche Erscheinung von rassistischen Strukturen. In diesen Tagen zeigt sich eine jahrzehntelange Beschwichtigungspolitik gegenüber rassistischer Gewalt. Eine jahrelange Kriminalisierung antifaschistischer Strukturen, eine Gleichsetzung von links und rechts, was die Relativierung von rechter, tödlicher Gewalt bedeutet. Und es waren in diesen Tagen die mutigen Antifaschist*innen, die sich dem Mob in den Weg gestellt haben. Angesichts der Gefahren von rechten, von islamistischen und türkischen geheimdienstlichen Strukturen fragt man sich in diesen Tagen, welche Prioritäten die Bundesregierung in der Innenpolitik setzt. Und man erkennt, wie stark kapitalistische und außenpolitische Interessen die Prioritätensetzung (mit)bestimmen.

Welchen Preis wird die kurdische Community diesmal zahlen müssen?

Ein Blick auf den Umgang mit linken, internationalistischen Strukturen reicht eigentlich schon aus, um die Antwort zu geben. Für die kurdische Community stellt sich nach jedem Besuch türkischer Vertreter in Deutschland und nach jedem Besuch deutscher Vertreter*innen in der Türkei die Frage: „Welchen Preis müssen wir für die abgeschlossenen Deals wieder zahlen?“ Das Verbot von Fahnen, das Verbot von Demonstrationen, das Verbot von kurdischen Kulturfestivals oder des Newroz-Festes, Razzien, Festnahmen, Einschüchterungsversuche gegenüber Menschen, die sich mit dem kurdischen Widerstand solidarisieren, der Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray, Auslieferungswünsche an die Türkei, die Deckelung türkischer Agentenstrukturen, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz: Die Wunschliste Erdoğans ist lang und vor dem Hintergrund der Aussagen des neuen Außenministers Heiko Maas’ immer noch aktuell. „Die Beziehungen zur Türkei sollen verbessert werden“, äußerte Maas nach seinem Türkei-Besuch. SPD-Chefin Nahles sprach sogar von finanzieller Unterstützung der Türkei in der schwierigen wirtschaftlichen Lage. Die Unterstützung der Bundesregierung mit deutschen Panzern während des blutigen Angriffskriegs gegen Efrîn haben wir nicht vergessen.

Diktator mit Blut an den Händen

Nun steht der Besuch Erdoğans Ende September in Berlin an. Konkret bedeutet das für die kurdische Community in Deutschland: Während einem Diktator mit Blut an den Händen ausgerollt wird und die große Ehre erwiesen wird, werden die Repressionsmaßnahmen wieder zunehmen. Die 6000 Agenten des MIT dürfen weiterhin Mordpläne gegen Oppositionelle schmieden und sieben deutsche Staatsbürger sitzen weiterhin in der Türkei entweder in Haft oder sind mit einer Ausreisesperre konfrontiert, weil sie es gewagt haben, den Diktator zu kritisieren. Das Bündnis „Erdogan not welcome“ plant starke Demonstrationen, um der Bundesregierung und Erdoğan die rote Karte zu zeigen. Es ist wichtig an diesen Demonstrationen teilzunehmen, sich nicht einschüchtern zu lassen und zu zeigen, wer hier der eigentliche Terrorist ist, nämlich Erdoğan.

Wo ist eigentlich Mehmet Fatih S.?

Vielleicht können die deutschen Vertreter*innen bei ihrem Treffen auch Erdoğan fragen, wo sich eigentlich der in Hamburg verurteilte türkische Agent Mehmet Fatih S. befindet. Als ich ihn vor einiger Zeit wegen seinen Drohungen auf Twitter angezeigt hatte, bekam ich wenig später einen Brief von der Staatsanwaltschaft Berlin, in dem sie schrieben, dass der Aufenthaltsort von S. nicht bekannt sei und wenn ich seinen Aufenthaltsort wissen sollte, diesen den Sicherheitsbehörden mitteilen sollte. Mein Rat: Vielleicht sollte die Bundesregierung einfach mal ihre Prioritätensetzung in der Innenpolitik ändern, das rechte Auge öffnen und ethische Werte in der Außenpolitik verfolgen.