Erdoğan als Patriarch, Herrscher und Wegweiser
Die österreichische Philosophin Isolde Charim beschreibt in einer Zeitungskolumne die Politik des türkischen Staatspräsidenten als „autoritäre Politik der neuen Art“.
Die österreichische Philosophin Isolde Charim beschreibt in einer Zeitungskolumne die Politik des türkischen Staatspräsidenten als „autoritäre Politik der neuen Art“.
Die österreichische Philosophin Isolde Charim beschreibt in einer Zeitungskolumne, nachdem Recep Tayyip Erdoğan den deutschen Satiriker Jan Böhmermann wegen Beleidigung angezeigt hatte, die Politik des türkischen Staatspräsidenten als „autoritäre Politik der neuen Art“.
Charim spricht von einem „transnationalen Nationalismus“: Erdoğan entterritorialisiere die türkische Nation und betrachte das türkische Staatsgebiet als nicht mehr eingegrenzt; die Türkei sei nun überall dort, wo von Türken gesprochen werde, wo Türken lebten. Überall dort gelten, so Erdoğans Vorstellung, seine Regeln, ohne Rücksicht auf die Verfassung und Souveränität europäischer Staaten. Dabei verfügt Erdoğan über den Hoheitsanspruch selbst. Wenn er zu Beginn seiner Amtszeit noch im Ausland lebende Türken aufforderte, sich als „Gäste des Landes“ gut zu benehmen, aber sich nicht zu assimilieren, tritt er nun gegenüber den europäischen Türken als ihr Vater, ihr Patriarch, ihr Retter vor dem bösen Westen, ihr Herrscher und Wegweiser auf.
Weltweit autoritär-konservative Kräfte in Machtpositionen
In Zeiten, in denen autoritäre Staatsmänner wieder an Macht und Bedeutung gewinnen, ist dies vielleicht nicht verwunderlich. Seit Jahrzehnten existiert in vielen Ländern dieser Welt eine gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen autoritär-konservativen und progressiv-libertären Kräften. In den letzten Jahren sind weltweit die autoritär-konservativen Kräfte, meist Männer, in Machtpositionen in vorderster Reihe vorgedrungen und haben an Bedeutung gewonnen. Doch Erdoğans Rolle und Strategie im Vergleich zu Putin oder Trump ist eine andere.
Türkische Identität in den Fokus gerückt
Er versucht, eine neue Identität der seit Jahrzehnten in Europa lebenden Türken zu konstruieren. Dabei wird die türkische Identität wieder in den Fokus gerückt. Man ist nicht mehr deutsch, deutsch-türkisch, europäisch-türkisch oder einfach nur Mensch. Hier wurde in den letzten Jahren eine Dynamik ins Rollen gebracht, die Mischidentitäten und andere Identitäten auch außerhalb der Türkei verbietet und das Türkischsein als eine Art Mission und kollektive Pflicht definiert. Die bekannten Feindbilder aus der Türkei „Armenier, Kurde, Alevite, Linke, Frau, LGBTI, Westen“ werden auch hier in Deutschland und in Europa enorm geschürt.
Gemeinsamer Nenner
Als über die Resolution zum Genozid an den osmanischen Armeniern 1915-1916 im Deutschen Bundestag abgestimmt wurde, versammelten sich aus Protest gegen die Resolution Kemalisten, Islamisten, Anhänger der Grauen Wölfe und Mitglieder der Osmanen Germania, einer türkisch-nationalistischen Rockervereinigung. Die einst in Europa zerstrittenen Gruppen fanden auf einem gemeinsamen Nenner wieder zusammen: Das "Türkischsein" und damit verbunden die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegen Armenier als eines der bereits genannten Feindbilder.
Laut Erkenntnissen deutscher Sicherheitsbehörden hat Erdoğan den AKP-Abgeordneten Mehmet Külünk beauftragt, diese Protestaktion zu organisieren und die Osmanen Germania mit Geld für Waffenkäufe auszustatten. Diese gefährliche, ultranationalistisch und islamistisch geprägte Dynamik wurde im Wahlkampf der AKP in Europa durch die Mobilisierung mobartiger Gruppen auf den Straßen sichtbar und spürbar.
„Erdoğans Türken“
Die Machtdemonstration Erdoğans und seiner Minister in Europa, vor allem in Deutschland und den Niederlanden, löste großen Unmut bei der hiesigen Gesellschaft aus. Man begann, sich mit „Erdoğans Türken“ auseinanderzusetzen, Erklärungen zu finden für die Begeisterung jugendlicher AKP-Anhänger, die die Türkei nur aus den Sommerferien kennen und die Vorzüge Europas in Form von Grundrechten genießen. Auf die Frage, ob es demokratischen Grundprinzipien entspreche, demokratisch gewählte Abgeordnete und Bürgermeister der HDP und Journalisten einzukerkern oder ganze Städte zu zerstören und die Bevölkerung zu massakrieren, antworteten die Anhänger Erdoğans mit Argumenten wie „Ja, es handelt sich doch um Terroristen“. Dabei betonten sie immer wieder demonstrativ, dass Grundrechte in Europa auch für sie gelten würden und sie trotz ihrer Begeisterung für Erdoğan ein Leben in Europa bevorzugen.
Gescheiterte Integration?
Eine bestimmte Frage polarisierte im türkischen Wahlkampf am stärksten: Todesstrafe in der Türkei ja oder nein? Dass die Mehrheit der wahlberechtigten europäischen Türken für die Todesstrafe in der Türkei stimmen würde, obwohl sie nicht in der Türkei lebt, und gleichzeitig die Todesstrafe in den europäischen Staaten, in denen sie lebt, ablehnt, machte Politik und Wissenschaftler in Europa fassungslos. All die Integrationsansätze der Politik wurden als gescheitert und wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse zum Thema „Integration türkischer Menschen in Deutschland“ als nicht mehr repräsentativ betrachtet. Manche sprachen von gescheiterter Integration, andere davon, dass Erdoğan nicht alle Türken repräsentiere, da die Zahlen zur Wahlberechtigung und -beteiligung der aus der Türkei stammenden in Deutschland lebenden Menschen differenziert betrachtet werden müssten.
Geistig in die Türkei zurückgeholt
Ob gescheiterte Integration oder nicht, Fakt ist jedoch, dass Erdoğan jahrelang ungestört „seine Türken“ in Europa organisieren und mobilisieren konnte, ohne von staatlicher Seite ausgebremst zu werden. Die europäischen Regierungen ließen Erdoğan gewähren und versuchten den Eindruck zu erwecken, sie seien überrascht von dieser plötzlichen Radikalisierung. Dies erscheint unglaubwürdig: Vielmehr wurde die jahrelang über die türkischen Grenzen hinweg betriebene neue Art von Politik wissentlich toleriert. Da eine territoriale Eroberung Europas durch Erdoğan als Möglichkeit ausgeschlossen wurde, empfanden sie sein Vorgehen auch nicht als große Gefahr. Sie glaubten, seine osmanischen Großmachtfantasien umfassten nur den Nahen und Mittleren Osten. Territorial betrachtet, trifft dies vielleicht zu, aber die europäischen Regierungen haben verpasst, dass Erdoğan „seine Türken“ geistig erobert hat. Sie sind physisch hier, aber geistig hat er sie in die Türkei zurückgeholt. Für die Zurückgeholten zählt nicht die Verfassung des Staates, in dem sie leben, für sie zählen nur das Wort und die Regeln Erdoğans.
Bundesregierung lässt Erdoğan gewähren
Trotz der objektiven Gefahren, von denen wir schon einen Vorgeschmack erleben, erlaubt vor allem die deutsche Bundesregierung Erdoğan weiterhin, seine Strukturen auszubauen und somit seine Eroberung fortzusetzen. Im Konsulatsunterricht ebenso wie in AKP-nahen Moscheegemeinden wird noch immer nationalistischislamistisches Gedankengut gelehrt. Die türkisch-islamische Synthese wird als Ideologie weiterhin verbreitet. Lange Zeit machten sich Erdoğans Anhänger auch in deutschen Parteien breit und versuchten, durch Lobbyarbeit ihre Positionen zu stärken. Dies wurde zum Teil nach Erdoğans Ausfällen gegenüber der deutschen Bundesregierung und den Nazi-Vergleichen ausgebremst. Ihre Propaganda können sie zwar nicht mehr offen betreiben, doch sind sie in Parteien noch immer vertreten, auch als Funktionsträger. Hier spielt die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die Lobbyorganisation Erdoğans in Europa, eine wichtige Rolle. Sie pflegt engste Beziehungen zu islamistischen Gruppen. Ein Foto beweist laut Stuttgarter Nachrichten die enge Verflechtung: Ein Funktionär der UETD posiert gemeinsam mit Ibrahim Abou Nagie, der die mittlerweile verbotenen salafistischen Infostände „LIES – die wahre Religion“ ins Leben gerufen hat und Kinder und Jugendliche für den Kampf des Islamischen Staates rekrutiert hat. Zwischen den beiden posiert der türkische Generalkonsul in Essen, Mustafa Kemal Basa.
Neben der UETD als ideologisch-politischem Arm Erdoğans existieren noch ein bewaffneter und ein ideologisch-religiöser Arm. Der religiöse Arm zeigt sich durch die enge Verflechtung zwischen Milli Görüş, der Muslimbrüderschaft und salafistischen Gruppen. Auch die türkischen Konsulate spielen in ihrer Rolle als Koordinatoren eine relevante Rolle.
Angriff auf Zuruf
Die kriminelle Bande Osmanen Germania hat, trotz Razzien durch die deutsche Polizei, weiterhin Zulauf und baut ihre Strukturen aus, um auf Zuruf von Erdoğan Oppositionelle und Angehörige anderer ethnischer und religiöser Gruppen zu bedrohen und anzugreifen. Über den früheren Mannheimer UETD-Vorsitzenden Yilmaz Ilkay Arin forderte Külünk die Osmanen auf, den ZDF-Moderator Jan Böhmermann für dessen Schmähgedicht auf Erdoğan zu bestrafen. Böhmermann konnte gewarnt werden, wurde unter Polizeischutz gestellt und verließ Deutschland für mehrere Wochen. Diese Organisation entstand 2015 und wuchs innerhalb von nur einem Jahr auf 1.500 meist türkischstämmige Mitglieder an. Sie lässt sich als der mafiös-bewaffnete Arm Erdoğans in Deutschland verstehen. Die Mitglieder sind gewaltbereit, bewaffnet, kriminell, selbstverständlich männerdominiert, sie haben ausgezeichnete Kontakte zur AKP und vertreten die türkisch-islamische Synthese.
Die nordrhein-westfälische Regierung geht von einer Zusammenarbeit der Rockergruppe mit türkischen Sicherheitsbehörden aus. In einer Innenausschusssitzung am 19. Oktober 2017 führte Innenminister Herbert Reul aus, von den türkischen Behörden würden die Aktivitäten der Osmanen Germania BC in Deutschland als ‚Terrorbekämpfung’ bewertet. Gemeint sind damit die PKK, die türkische Linke und die Gülen-Bewegung. Laut Ermittlern forderte der AKP-Abgeordnete Metin Külünk die Osmanen Germania auf, Kurden „mit Stöcken auf den Kopf zu schlagen“, dies zu filmen und die Videos dem türkischen Staat zur Verfügung zu stellen. Diese sollten dann „zur Abschreckung“ möglicher Kritiker Erdoğans verwendet werden. Der Chef der Osmanen Germania Mehmet Bagci sagte in einem Telefonat mit einem Funktionär der AKP, „sie wären bereit für die Sache zu sterben und zu töten“. Dass von der AKP auch Waffen der Osmanen Germania finanziert werden, verwundert kaum.
Anschlagspläne sind kein Geheimnis mehr
Dass Oppositionelle durch Agenten des türkischen Nachrichtendienstes MIT in der Bundesrepublik gezielt eliminiert werden sollen, ist seit dem Bekanntwerden der Mordpläne gegen den in Deutschland lebenden kurdischen Politiker Yüksel Koc und weitere Politiker kein Geheimnis mehr.
Der Spion Mehmet Fatih S. musste sich zwar vor dem Hamburger Oberlandesgericht wegen geheimdienstlicher Tätigkeit verantworten, wurde aber zu einer milden Strafe verurteilt und kann seine Freiheit wieder genießen. Die Mordpläne gegen Yüksel Koc wurden im Gerichtsverfahren außer Acht gelassen, obwohl handfeste Beweise vorlagen.
Der zweite in Hamburg aufgedeckte Spion, Mustafa K., ist sogar ohne Verfahren davongekommen, obwohl den Sicherheitsbehörden aussagekräftige Beweismittel vorgelegt wurden. Keineswegs haben die deutschen Sicherheitsbehörden die türkischen Agenten und ihre Mordpläne aufgedeckt, sondern die kurdische Community selbst! Im Gegenteil: bei den ersten Gesprächen mit den Sicherheitsbehörden hieß es in beiden Fällen, es gebe keine Anhaltspunkte für eine Gefahr oder überhaupt für Spionagetätigkeiten. Wir müssen sogar feststellen, dass die Sicherheitsbehörden und die Bundesregierung sich sehr bemüht haben, diese Fälle zu deckeln.
Beschämend und nicht zu rechtfertigen
Die Passivität der deutschen Bundesregierung und der immer tiefer werdende Kniefall Merkels vor Erdoğan ermutigen den machtbesessenen Diktator, seine Strukturen auszubauen und vor politischen Morden nicht Halt zu machen. Es ist beschämend und nicht zu rechtfertigen, dass Erdoğan ohne gebremst zu werden die Souveränität und Verfassung des deutschen Staates mit Füßen treten kann und die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet, während gleichzeitig immer öfter kurdische Fahnen verboten werden und immer mehr kurdische Aktivisten von Repression betroffen sind.
Wer ist hier der eigentliche Terrorist?
Die Bundesrepublik Deutschland muss sich entscheiden: Möchte sie Erdoğan solange gewähren lassen, bis seine Mordkommandos zuschlagen und das Blut Oppositioneller fließt? Bis seine Strukturen so stark sind, dass es kaum möglich sein wird, diese noch zu zerschlagen? Oder möchte sie diejenigen stärken, die sich für eine Demokratisierung, für eine Vielfalt der Türkei und des Mittleren Ostens einsetzen und sich heldenhaft dem Islamischen Staat in den Weg stellen und universelle Werte verteidigen? Anders formuliert, mit den Worten des Journalisten Georg Restle: „Wer ist hier der eigentliche Terrorist?“
Mit einer ehrlichen und realistischen Antwort sollte sich die Bundesregierung nicht mehr allzu viel Zeit lassen!
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Cansu Özdemir
Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft
Ko-Fraktionsvorsitzende