„Bedingungen für migrantische Selbstorganisierung herstellen“
Die Initiative für eine Gewerkschaft der migrantischen Arbeiter:innen in der Türkei und Nordkurdistan ruft zur Selbstorganisierung gegen Rassismus und Ausbeutung auf.
Die Initiative für eine Gewerkschaft der migrantischen Arbeiter:innen in der Türkei und Nordkurdistan ruft zur Selbstorganisierung gegen Rassismus und Ausbeutung auf.
In der Türkei und Nordkurdistan leben fast vier Millionen Menschen aus Syrien unter einem „vorrübergehenden Schutzstatus“. Während der türkische Staat die Schutzsuchenden als Druckmittel gegenüber der EU benutzt und Milliardensummen für die Migrant:innen aus Syrien erhält, wird die größte Mehrheit der Schutzsuchenden nicht vom türkischen Staat versorgt, stattdessen dienen sie als Billigstlohnarbeitskräfte vor allem im Textil-, Landwirtschafts- und Dienstleistungssektor. Währenddessen setzt das ins Schlingern geratene AKP/MHP-Regime ebenso wie die oppositionelle CHP auf rassistische Diskurse, welche den Rassismus und die prekäre Lage von Schutzsuchenden in der Türkei und Nordkurdistan verschärfen.
Rassismus ist nicht das einzige Problem für Migrant:innen in der Türkei. Vor allem die mit einem „vorübergehendem Schutzstatus“ ausgestatteten Menschen dienen als Billigstlohnarbeitskräfte. Aufgrund des zunehmenden Rassismus in der Gesellschaft kämpfen vor allem Menschen aus Syrien unter härtesten Bedingungen ums Überleben. Vor dem Hintergrund dieser Situation hat sich am 26. Dezember 2021 zum ersten Mal die Initiative für den Aufbau einer Gewerkschaft der migrantischen Arbeiter:innen getroffen. Im ANF-Interview berichten Vertreter:innen der Gewerkschaft über ihre Arbeit und die Lage der Schutzsuchenden in der Türkei und Nordkurdistan.
In der Türkei und Nordkurdistan leben viele Geflüchtete und Migrant:innen. Da ein großer Teil inoffiziell arbeitet scheint eine gewerkschaftliche Organisierung schwierig. Wie kann diese aussehen?
Nicht nur in der Türkei, sondern auch weltweit gibt es nach unseren Recherchen keine Gewerkschaft der migrantischen Arbeiter:innen. Darüber hinaus ist der juristische Prozess der gewerkschaftlichen Organisierung sehr schwierig, da Migrant:innen nicht nur in ihrem Arbeitsleben, sondern auch in ihrem alltäglichen Leben häufig nicht erfasst sind. Deshalb haben wir auch den Namen „Initiative für den Aufbau einer Gewerkschaft der migrantischen Arbeiter:innen“ gewählt. Auch wenn wir in jeder Branche eine legale Gewerkschaft gründen, ist es extrem schwierig, Migrant:innen zu erreichen. Tatsächlich werden wir nicht in der Lage sein, die überwiegende Mehrheit von ihnen zu erreichen. Unser Ziel ist es, zumindest etwas gegen diese informelle Arbeit vorzugehen und denjenigen, die es wünschen, den Weg zur Einbürgerung zu ebnen. Dazu sollen die Menschen Schritt für Schritt organisiert werden. Danach wäre es ja auch möglich, sie an die verschiedenen Bereiche der Gewerkschaften zu verweisen. Und dann ist da noch das Detail, es muss darum gehen, dass nur die Menschen, die wollen, die Staatsbürgerschaft erhalten, denn gegenüber manchen Migrant:innen wird massiver Druck ausgeübt und sie wollen daher die Staatsbürgerschaft gar nicht. Bei Kundgebungen bringen Migrant:innen auch immer wieder ein weiteres Problem zum Ausdruck: Wohnen und Arbeitserlaubnis bedingen einander.
Die fehlende Registrierung ist für die Arbeiter:innen in diesem Bereich ebenfalls ein sehr ernstes Problem. Insbesondere die Mehrheit der Migrant:innen arbeitet zu Hause und wird nach Anzahl der produzierten Einheiten bezahlt. Sie verdienen durchschnittlich etwa fünf Lira pro Tag. Außerdem gibt es viele, die hochmobil sind und dorthin reisen müssen, wo es Arbeit gibt. Das verhindert eine Organisierung. Wie bereits anfangs gesagt, zwingen die aktuellen Gesetze und Regelungen Migrant:innen dazu, unerfasst und ohne Papiere zu leben und zu arbeiten. So müssen die Arbeitgeber, wenn sie diese anmelden, höhere Ausgaben für Saisonarbeiter:innen tätigen. Eine offizielle Beschäftigung wird von den Bossen der Firmen als Belastung betrachtet. So wird unerfasste Arbeit gefördert.
Der Status von Schutzsuchenden in der Türkei ist hochproblematisch, die meisten erhalten nur einen vorübergehenden Schutzstatus. Ist das ebenfalls ein Faktor bei der Arbeit im informellen Sektor?
Natürlich geht es bei dem vorübergehenden Schutzstatus um die Fortsetzung der Papierlosigkeit. Dieser Status hängt auch mit den Rückführungsabkommen zusammen. In Europa zum Beispiel gibt es zwei Kategorien, Ablehnung oder Anerkennung. Aber in den Ländern der sogenannten „Dritten Welt“, die in Lager für Migrant:innen umgewandelt werden sollen, gibt es diese Formen des rechtlichen Status gar nicht. Menschen in diesem vorübergehenden Schutzstatus sind permanent von Abschiebung bedroht. Dies stellt ein massives Hindernis dabei dar, die Menschen dazu zu bewegen, für ihre Rechte einzutreten und sich zu organisieren. So werden Schutzsuchende dort, wo sie registriert werden, zur Unterbringung und Arbeit an bestimmten Stellen gezwungen. Leider sind die sozio-ökonomischen Bedingungen an diesen Orten so schlimm, dass es die Menschen vorziehen oder besser gesagt dazu gezwungen sind, lieber papierlos zu sein.
Bei unseren Untersuchungen wurden Migrant:innen befragt, die bereits in zehn verschiedenen Städten gearbeitet hatten. Es gibt bereits ein System, das auf dieser Hochmobilität aufbaut. Es reicht von Reiseunternehmen bis hin zu Vermittler:innen, die alle mit dem Ziel arbeiten, migrantische Arbeitskraft zu mobilisieren.
Sie haben schon gesagt, dass Migrant:innen nicht legal einer Gewerkschaft beitreten können. Die Situation für eine Organisierung ist alles andere als günstig. Was sind ihre Planungen in dieser Hinsicht?
Ja, wie sie bereits gesagt haben, ist dies ein sehr schwieriger Bereich. Alleine schon die Institutionalisierung und Politisierung beinhalten ein Risiko für Migrant:innen. Ganz deutlich wird dies an den Beispielen von Frauen, die sich nicht einmal trauen, Gewalt durch ihre Ehemänner anzuzeigen. Sie haben Angst, dass sie abgeschoben werden könnten. Es gibt also einen großen Teil der Migrant:innen, der Angst hat, das eigene Recht zu suchen oder überhaupt auch nur sichtbar zu werden. Auf der anderen Seite gibt es einige Freund:innen, die zu unseren Treffen kommen, die seit vielen Jahren hier sind und die es irgendwie geschafft haben, sich abzusichern. Jeder, der im Bereich Migration arbeitet, sagt, es sei besonders wichtig Bedingungen zu schaffen, die eine migrantische Selbstorganisierung erlauben. Das ist unser Ziel. Wir beabsichtigen, diese Art von Solidarität aufzubauen. Das ist eine Pflicht für alle Menschen aus der Türkei. Denn es muss hier auch eins festgestellt werden, leider ist der Bereich der Migration aufgrund der Organisierung kein Bereich in dem gesagt werden kann: „Ich kann nicht in deinem Namen sprechen, komm und drücke dich selbst aus.“
Warum?
Weil jemand aus der Türkei, wenn er sein Recht sucht, Angst haben muss, entlassen oder verhaftet zu werden. Für Migrant:innen ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass sie abgeschoben werden, wenn sie ihr Recht suchen. Daher liegt es an der Opposition in der Türkei, die sich hier irgendwie für Arbeiter:innen engagiert, sich an die Seite der migrantischen Arbeiter:innen zu stellen und gegen die Bedingungen und Gesetze zu kämpfen, mit denen diese Menschen in prekäre und nicht registrierte Arbeit gedrängt werden. Darüber hinaus muss sich gegen die rassistische Propaganda gestellt werden. Es muss eine Politik entwickelt werden, die diese zurückschlägt und Solidarität aufbaut.
Einer der wichtigsten Punkte für uns ist es, die künstlich geschaffene Trennung zwischen Arbeiter:innen politisch zu thematisieren. Seit Jahren hören wir Propaganda wie „Die Migranten drücken unsere Löhne und nehmen unsere Arbeitsplätze weg“. Wir müssen klarstellen, dass Migrant:innen damit nichts zu tun haben, sondern dass sie gezwungen werden, ihre Arbeitskraft so billig zu verkaufen. Es muss verstanden werden, dass wenn Migrant:innen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte selbst zu verteidigen, dies alle Arbeiter:innen stärken wird.
Sie haben von der Spaltung der Arbeiter:innen gesprochen. Abgesehen von solchen künstlichen Spaltungen gibt es einen zunehmenden Rassismus in der Türkei, der sich auch in Morden manifestiert. Was können Sie dazu sagen?
Wir diskutieren auch untereinander, welche Form der Ansprache wir gegen Rassismus entwickeln müssen. Es ist notwendig, den Rassismus zurückzudrängen und rassismuskritische Diskurse zu verbreiten. Zum Beispiel haben wir in Kadiköy eine Kundgebung durchgeführt, aber dort werden wir nicht arbeiten, sondern dort wo es mehr Migrant:innen gibt. Wir werden die Antwort auf diese Frage eher bei der Arbeit finden. Theoretisch wissen wir, dass es diesen Rassismus gibt, aber wenn wir mit den Menschen direkt ins Gespräch kommen, dann werden wir das besser begreifen. Solche Spannungen gibt es nämlich auch zwischen unterschiedlichen Gruppen von Migrant:innen.
Bereits die Gründung einer Initiative für den Aufbau einer Gewerkschaft migrantischer Arbeiter:innen ist zumindest theoretisch ein Schritt gegen den Rassismus. Die eigentliche Form des Kampfes wird sich erst durch die Zusammenarbeit mit den migrantischen Arbeiter:innen entwickeln.
Auf der anderen Seite sind wir alle gegen Rassismus und deshalb schließen wir uns zusammen. Aber heute muss die Debatte über die Angriffe hinaus sich damit beschäftigen, dass diese Menschen recht- und papierlos gehalten werden. Deshalb müssen wir uns organisieren. Ja, wir haben Schritte in Richtung einer Initiative unternommen, und wenn die Zahl der beteiligten Menschen zunimmt, werden auch die Antworten auf die Frage „Was werden wir tun?“ zunehmen.
Abschließend rufen wir alle dazu auf, für Migrant:innen das zu tun, was sie können, und sich an unserer Organisierung zu beteiligen.