AZADÎ: Corona hat vieles ausgebremst, aber nicht die Repression

Der Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. gibt im aktuellen AZADÎ-Info unter anderem einen Rückblick auf das Jahr 2020.

„Corona hat vieles ausgebremst, aber nicht die Repression”, erklärt der Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. und gibt in dem Leitartikel der aktuellen Ausgabe des AZADÎ-Infos einen Rückblick auf 2020:

Auch bei AZADÎ war das zurückliegende Jahr nicht unwesentlich durch die Corona-Epidemie geprägt: Informationsveranstaltungen, zu denen wir normalerweise regelmäßig in verschiedene Städte eingeladen werden, fanden in weit-aus geringerem Ausmaß statt. Auch die Umstellung der Kommunikation zwischen den AZADÎ-Aktiven auf Videokonferenzen bedurfte eines gewissen Vorlaufs – funktioniert mittlerweile aber zufriedenstellend. Umso erfreulicher war es, dass wir Ende September in Hannover in Zusammenarbeit mit einem breiten lokalen Bündnis und unter strengen Hygienemaßnahmen unsere zweite Regionalkonferenz gegen die „Kriminalisierung der kurdischen Bewegung“, diesmal in Bremen und Niedersachsen, durchführen konnten. Die erste Tagung konnten wir im November 2019 in München veranstalten.

Das Jahr begann unter politisch-juristischen Gesichtspunkten sehr erfolgreich: Am 28. Januar traf das Kassationsgericht in Brüssel die Entscheidung, dass es sich bei der PKK nicht um eine terroristische Organisation handelt, sondern um eine bewaffnete Konfliktpartei in einem innerstaatlichen Konflikt gemäß den Vorgaben des Völkerrechts. Hintergrund des Urteils waren Razzien in Brüssel, die die Polizei 2010 in den Büros des Kurdischen Nationalkongresses (KNK) als auch in den Produktionsstätten des kurdischen Fernsehens durchführte. Das Urteil des Kassationsgerichts ist höchstrichterlich und damit rechtskräftig. Auch wenn diese Entscheidung keine direkten Auswirkungen auf die deutsche Justiz hat, ist sie ein klares Signal, dass sich Deutschland mit seiner rigiden Verfolgung der kurdischen Befreiungsbewegung innerhalb Europas zunehmend isoliert. Aufgrund der Bedeutung des Urteils hat AZADÎ zusammen mit dem Verein für Demokratie und Internationales Recht (MAF-DAD) im November eine eigene Broschüre herausgebracht.

Weitgehend unbeeindruckt von der Coronakrise lief 2020 leider die Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung in Deutschland. Kam es am Anfang der Epidemie noch hin und wieder zu Verschiebungen von Gerichtsterminen, scheint sich die Justiz nun auf das Virus eingestellt zu haben. So wurden etwa Fristen maximal möglicher Prozessunterbrechungen verlängert, bevor ein laufendes Gerichtsverfahren neu aufgerollt werden muss. Unserer Forderung, die von uns betreuten 129b-Gefangenen, von denen viele aufgrund von langjähriger Haft und Folter in der Türkei vorerkrankt sind, aus der Untersuchungshaft zu entlassen, wurde erwartungsgemäß nicht entsprochen und diesbezügliche Anträge der Verteidiger*innen von den Senaten abgewiesen.

Auch 2020 kam es wieder zu vielen Verhaftungen und Prozessen gegen Kurdinnen und Kurden auf der Grundlage des §129b (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung), wie die jüngste Festnahme von Mustafa T. in Bayern zeigt. Wie in den Jahren zuvor, werden ihnen keine individuellen Straftaten vorgeworfen, sondern lediglich, sich als angebliche Gebiets-, oder Regionsleiter der PKK politisch betätigt zu haben. Als eines von vielen Beispielen sei hier das Verfahren gegen Mustafa Çelik vor dem OLG Hamburg genannt. Der Aktivist wurde erneut zu zwei Jahren und sieben Monaten Freiheitsstrafe wegen seiner politischen Aktivitäten verurteilt, nachdem gegen ihn bereits im Jahr 2016 eine zweieinhalbjährige Gefängnisstrafe verhängt worden war.

Das umfangreichste Verfahren nach §§129a/b vor dem OLG Stuttgart-Stammheim gegen fünf kurdische Angeklagte – darunter eine Frau – ist seit April 2019 anhängig. Die Anklage beruht im Wesentlichen auf den Aussagen eines Kronzeugen, dessen teilweise wirren Aussagen selbst vom Gericht in Zweifel gezogen wurden. Gegen ihn hat die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart mittlerweile selbst Anklage nach §129 erhoben. Aktuell betreuen wir im Zusammenhang mit dem §129b elf Gefangene in Straf- oder Untersuchungshaft.

Politisch bedeutsam war sicher auch das (vorläufige) Ende im Prozess gegen neun Männer und eine Frau wegen angeblicher Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch) vor dem OLG München nach mehr als vier Jahren. Obwohl die TKP/ML weder in Deutschland noch in Europa verboten ist, wurden alle Angeklagten schuldig gesprochen und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Gegen den Hauptangeklagten, Müslüm Elmar, wurde eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verhängt, obwohl auch er bereits in der Türkei zwanzig Jahre inhaftiert und schwerster Folter ausgesetzt war.

Zunehmender Repression sehen sich politisch aktive Menschen ohne deutschen Pass vor allem in Bayern und Baden-Württemberg durch das Aufenthalts- und Asylrecht ausgesetzt. Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und ihrer Arbeit nachgehen, werden als „Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands“ aufgebauscht, weil sie etwa Vorstandsfunktionen in legalen kurdischen Vereinen übernommen haben. Mit verheerenden Folgen: Sie werden mit Ausweisung in die Türkei bedroht, verlieren Aufenthaltsstatus und Arbeitserlaubnis, müssen sich regelmäßig polizeilich melden und dürfen teilweise ihren Wohnort nicht verlassen. Es werden menschliche Schicksale und die ihrer Familien zerstört. Dieses Unrecht bekannter zu machen, soll ein Schwerpunkt unserer Arbeit im neuen Jahr bilden.

Aber hin und wieder gibt es auch positive juristische Entscheidungen. So beschloss das Bayerische Oberste Landesgericht am 1. Dezember in einem Revisionsverfahren, dass das Zeigen von Symbolen der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG und YPJ auf Versammlungen und im Internet nicht strafbar ist. Gerade in Bayern hatten die Staatsanwaltschaften Hunderte dieser Verfahren, oft auch verbunden mit Hausdurchsuchungen bei den Betroffenen, durchgeführt. Wir hoffen, dass dieser Spuk nun erst einmal beendet ist und sich Gerichte anderer Bundesländer dieser Entscheidung anschließen.

Auch 2021 werden wir als AZADÎ weiterhin die Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung in Deutschland kritisch beleuchten und materielle Solidarität für Menschen leisten, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten mit Strafverfahren konfrontiert oder gar inhaftiert sind.