Es heißt ja, das Schlimmste, was einer Nachricht passieren kann, ist ihre Nicht-Veröffentlichung.
Seit April 2021 schweigen sich die deutschen Medien aus über die türkischen Angriffe mit Chemiewaffen in Südkurdistan/Nordirak. Keine Zeile über die Opfer des Giftgases, über extra-legale Tötungen durch Killerdrohnen der türkischen Armee, über Folter und Plünderungen in den türkisch-besetzten Gebieten. Das alles war vermutlich als „Krieg niederer Intensität“ nicht spektakulär genug für eine Berichterstattung.
Jetzt auf einmal nun doch Meldungen in den wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen über die Angriffe der türkischen Armee auf ein Flüchtlingscamp, auf die ezidische Şengal-Region sowie auf die Kleinstadt Dêrik in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien. Die Berichte berufen sich auf das türkische Verteidigungsministerium, und meist wird als Quelle auch die „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (Syrian Observatory for Human Rights, SOHR) genannt.
Nun also – eingeklemmt zwischen den Top-Themen Corona und Ukraine – darf die Öffentlichkeit erfahren, was gerade in Kurdistan geschieht. Kann man sich darüber freuen? Headlines wie „Türkei fliegt neue Luftangriffe gegen Kurdenziele in Irak und Syrien“ (Die Zeit am 02.02.2022) springen in die Augen.
Was muss man sich unter „Kurdenzielen“ vorstellen?
Das Elektrizitätswerk von Dêrik in Rojava, bei dessen Zerstörung Siyamend Efrîn, Xemgîn Efrîn, Şiyar Kobanê und Mihyedîn Dêrik, die die Anlage schützten, getötet und fünf Arbeiter verletzt wurden?
Oder die drei ezidischen Zivilisten in Şengal, die den IS-Terror überlebten und nun durch türkische Luftschläge ums Leben kamen?
Oder das in den 1990er Jahren errichtete und unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehende Flüchtlingslager Mexmûr, in dem Kurd:innen Schutz suchten, deren Dörfer der türkische Staat niedergebrannt hat? Beim Angriff auf dieses „Kurdenziel“ wurden zwei Mitglieder der Selbstverteidigungskräfte getötet, Dutzende Zivilist:innen verletzt.
All diese „Kurdenziele“ sind nicht abstrakt. Sie haben Namen. Es sind Menschen, die für ihre Familien ein friedliches Leben wünschten, die ihre vom Krieg gebeutelte Heimat aufbauten, beschützten und verteidigten.
Weil „da unten“ ja alles so kompliziert und für deutsche Journalisten eher unübersichtlich ist, sucht man einfache Formulierungen. So werden dann Begriffe wie „Kurdenmilizen“ erfunden. Gemeint sind damit in der Regel die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD, engl. Syrian Democratic Forces, SDF), ein 2015 entstandenes multiethnisches Militärbündnis bestehend aus den Verteidigungseinheiten der YPG und YPJ sowie kurdischen, turkmenischen, assyrisch-aramäischen, armenischen und arabischen Verbänden. Doch warum sollte der deutsche Leser mit so vielen Details belästigt werden? Das Konzept pluraler Ethnizität überfordert nur – und Medienproduzenten und -konsumenten können ein völkisch nationalistisches Denkschema eher leichter verstehen .... „Kurdenmilizen“.
Abgesehen von manch seltsamen Begrifflichkeiten macht sich kaum eine Redaktion die Mühe, die Hintergründe der massiven türkischen Luftschläge vom 1. Februar auszuleuchten. Ähnlich wie „Die Welt“, die lapidar schreibt, „Ankara begründete die Luftschläge in den Nachbarländern mit Selbstverteidigung“, übernehmen auch die meisten anderen Medien türkische Regierungspropaganda. Gerne wird das Verteidigungsministerium in Ankara zitiert, das von „neutralisierten Extremisten" spricht (siehe Tagesschau am 02.02.2022). Immerhin setzt man die zynische Kriegsrhetorik in Anführungszeichen.
Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem von den QSD niedergeschlagenen Ausbruch der IS-Terroristen aus dem Sina-Gefängnis in Hesekê und der türkischen Angriffsserie bleibt unerwähnt. Eine kurze Recherche hätte genügt, um herauszufinden, dass nach erfolgreichen Aktionen gegen den sogenannten Islamischen Staat türkische Militäroperationen als Vergeltung an der Tagesordnung sind. Aber dies zu erwähnen, würde einem Eingeständnis der Kenntnis um die Unterstützung des IS seitens des NATO-Partners Türkei gleich kommen. Politisch zu heikel für die Redaktionen deutscher Medienhäuser.
Lieber fügt man am Ende der Berichterstattung alte Textbausteine ein über die „verbotene PKK“ und hofft, damit ist dann alles erklärt. Erinnert oder hinterfragt eigentlich noch jemand den Grund des Verbots von 1993? Erwähnt wird meist auch der Eintrag der PKK auf der EU-Terrorliste. Unerwähnt bleibt, dass diese Einstufung innerhalb der EU höchst umstritten ist, wie mehrere Urteile belegen. Diese jahrzehntealte Konnotation „Kurden = PKK = Terror“ garantiert türkisches Wohlwollen, ist konform mit deutscher Staatsräson und hält sich wie zäher Schleim. Die ständige Wiederholung dieses Konstrukts verhindert bisher erfolgreich eine Auseinandersetzung mit dem – immerhin schon in den frühen 2000er Jahren – erfolgten Paradigmenwechsel innerhalb der Arbeiterpartei Kurdistans. Wofür steht die PKK? Äh, keine Ahnung….
Was also kann man deutschen Medienschaffenden empfehlen, wenn sie denn darüber berichten, was im fernen Kurdistan geschieht und nicht die türkische Propaganda nachbeten wollen? Eine nützliche Quelle ist Civaka Azad, das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., das neben aktuellen Pressemitteilungen, Factsheets und Dossiers mit Hintergrundinformationen auch Kontakte vermittelt. Wer sich lieber aus erster Hand von Quellen vor Ort informieren will, kann sich auch an das Pressezentrum der QSD wenden.
Wenn es gelingt, über Oppositionsbewegungen in anderen Ländern detailverliebt zu berichten, und wenn selbst die Schuhgröße eines Alexej Nawalny ermittelt werden kann, sollte auch eine Recherche über Inhalte, Ziele und Akteure der Freiheitsbewegung in Kurdistan möglich sein. Man darf gespannt sein und weiter hoffen.