„Şebnem Korur Fincancı wurde auf Erdogans Befehl festgenommen“

In der Türkei wird gegen die Festnahme von Şebnem Korur Fincancı protestiert. Der HDP-Vorsitzende Mithat Sancar fordert die Freilassung der renommierten Wissenschaftlerin und sagt, dass die Festnahme von Erdogan angeordnet wurde.

In der Türkei wird gegen die Festnahme von Şebnem Korur Fincancı protestiert. Die 1959 in Istanbul geborene Forensikerin ist Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands (TTB) und Vorstandsmitglied der Menschenrechtsstiftung in der Türkei (TIHV), 2018 wurde ihr der Hessische Friedenspreis verliehen. Am Samstag sprach sie auf der Konferenz der Betroffenen in Köln über die Situation der Menschenrechte in der Türkei, zeitgleich lief in der Türkei eine Hetzkampagne gegen die Medizinerin, weil sie sich öffentlich für eine Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze durch die türkische Armee in Kurdistan ausgesprochen hatte. Fincancı kehrte trotzdem am Sonntag in die Türkei zurück. Zuvor hatte sie der Generalstaatsanwaltschaft Ankara über ihren Rechtsbeistand mitteilen lassen, in dem gegen sie wegen „Beleidigung der türkischen Nation“ eingeleiteten Strafverfahren zu einer Aussage bereit zu sein. Anstatt vorgeladen zu werden, wurde Fincancı heute Morgen in ihrer Wohnung in Istanbul festgenommen.

Der Ärzteverband TTB, die Menschenrechtsstiftung TIHV, die Gewerkschaftsverbände DISK und KESK sowie der Menschenrechtsverein IHD fordern die sofortige Freilassung von Fincancı. In mehreren Städten in der Türkei, unter anderem in Istanbul und Amed (tr. Diyarbakir) haben Protestkundgebungen stattgefunden. Der Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker, Mithat Sancar, besuchte zusammen mit weiteren Abgeordneten die Zentrale des TTB in Ankara, um sich solidarisch zu erklären. Der TTB-Generalsekretär Vedat Bulut bedankte sich für den Besuch und sagte: „Die Unterstützung aller, die zum Konzept der Unabhängigkeit, der Demokratie und der Freiheit in der Türkei beitragen und diesen Kampf mittragen, ist für uns wichtig.“

Mithat Sancar: Die Festnahme von Şebnem Korur Fincancı wurde von Erdogan angeordnet

Auf Erdogans Befehl

Mithat Sancar erklärte, dass Fincancı aufgrund einer Anweisung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an die Justiz festgenommen wurde: „Dies war nicht unerwartet, es gab eine Lynchkampagne gegen sie. Der Präsident der Republik hat sich direkt gegen sie geäußert. Er ging sogar noch weiter und wies die Justiz an und mobilisierte die Staatsanwaltschaft. Şebnem war im Ausland. Sie hatte angekündigt, dass sie zurückkommen und sich am Donnerstag bei der Staatsanwaltschaft zu den Vorwürfen äußern würde. Die Staatsanwaltschaft war darüber informiert. Trotzdem wurde sie heute festgenommen. Nach ihrer Festnahme wurde diese Lynchkampagne mit Verleumdungen und schwarzen Propagandamethoden fortgesetzt. Die Gründe für die Festnahme von Professor Fincancı und die Lynchjustiz an ihr sind offensichtlich. Der TTB ist eine Organisation, die sich den Werten der Medizin und den Grundsätzen der Menschenrechte verschrieben hat und in diesem Bereich einen wirksamen Kampf führt.“

Kompromisslose Haltung gegen den Krieg

Şebnem Korur Fincancı sei eine Menschenrechtsaktivistin und Ärztin, die diese langjährige Tradition des TTB kompromisslos fortführe, sagte Sancar weiter: „Sie ist unsere Freundin und Kollegin und hält sich streng an die ethischen Grundsätze ihres Verbands. Aufgrund ihrer Äußerungen zu den Chemiewaffenvorwürfen, die derzeit auf der Tagesordnung stehen, ist sie im Rahmen ihres Fachwissens ins Visier der Lynchangriffe gerückt und festgenommen worden. Der TMA verfolgt eine Linie, die Krieg und Kriegspolitik zu jeder Zeit abgelehnt hat. Er hat auf die sozialen und politischen Schäden des Krieges aufmerksam gemacht und sich für den Frieden eingesetzt. Dies ist aus universeller Sicht eines der Hauptziele aller medizinischen Organisationen. Betrachtet man die Dachverbände und nationalen Organisationen von Ärztinnen und Ärzten auf der ganzen Welt, so kristallisieren sich das Eintreten für die Menschenrechte und der Widerstand gegen den Krieg als die wichtigsten Grundsätze und Ziele heraus.“

Fincancı sei aufgrund ihrer entschlossenen Haltung gegen die Kriegspolitik der Regierung seit langem ständigen Angriffen ausgesetzt und bedroht worden, führte Sancar weiter aus: „Wenn wir alle objektiv hinschauen, können wir erkennen, wie tief die Schäden sind, die die Kriegspolitik in diesem Land verursacht hat. Wenn man sich alle universellen Kriterien in der Welt ansieht, kommt man zu der gleichen Einschätzung, dass Kriegspolitik auch ein Problem der öffentlichen Gesundheit ist. Da diese Regierung aber ihre Existenz an die Kriegspolitik knüpft, will sie die Opposition, die in diesem Bereich auftaucht, mit allen Mitteln einschüchtern und zum Schweigen bringen. Denn in dem Maße, in dem die Opposition in der Kriegspolitik wächst, wird die Grundlage, auf der die Existenz dieser Regierung beruht, geschwächt und bricht zusammen. Damit verschwinden die Möglichkeiten der Regierung zu überleben. Aus diesem Grund ist die größte Sensibilität dieses herrschenden Blocks das Wachstum der Opposition gegen den Krieg und die Verbreitung des Kampfes gegen den Krieg. In dem Maße, wie sich der Widerstand gegen die Kriegspolitik ausbreitet, laufen die Wahlstrategien und Drohungen dieser Regierung ins Leere. Der TTB wird genau deshalb ins Visier genommen und Şebnem Korur Fincancı wird kriminalisiert, weil sie diese Tradition auf die deutlichste Weise aufgreift und fortführt.“

Sancar wies darauf hin, dass die gestrigen Festnahmen von elf Journalist:innen in demselben Rahmen bewertet werden müssten und das verabschiedete Zensurgesetz Teil desselben Plans sei: „Die Einschüchterung von Oppositionskreisen, Menschenrechts- und Demokratieverteidigern und der Gesellschaft wird die wichtigste Politik dieser Regierung im Vorfeld der Wahlen sein. Wir stehen in der Verantwortung, den stärksten und breitesten Kampf gegen diese Politik zu organisieren. Mit anderen Worten: Wir haben die Verantwortung, den gemeinsamen Kampf für Menschenrechte, Demokratie und Frieden in allen Bereichen fortzusetzen.“