Eine Analyse der Konfliktdynamik
Die politische und militärische Lage in Nordsyrien ist durch eine zunehmende Komplexität gekennzeichnet, insbesondere durch die Aktivitäten der dschihadistischen Koalition Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der von der Türkei unterstützten Milizen, die im Rahmen des Operationsraums Fajr al-Hurriya operieren. Beide Gruppen stellen eine erhebliche Bedrohung für die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) dar, verfolgen jedoch unterschiedliche Ziele und Strategien.
Ziele und Strategien der Konfliktparteien
Die von Abu Mohammad al-Jolani geführte HTS verfolgt eine strikt dschihadistische Ideologie und strebt die Errichtung eines islamischen Staates nach Scharia-Gesetzen an. Ihr militärischer Schwerpunkt lag zunächst in der Region Idlib. In jüngster Zeit hat HTS jedoch weiter nach Norden expandiert und damit die Landkarte Syriens dramatisch verändert. Obwohl HTS unabhängig von der Türkei agiert und sich beispielsweise 2018 nicht an der Offensive gegen Efrîn beteiligte, zeigen die jüngsten Gebietsgewinne eine neue Dynamik. Jolani versucht, HTS international als moderate Kraft darzustellen, um politische Legitimität zu gewinnen.
Fajr al-Hurriya hingegen ist ein türkisches Instrument zur Verfolgung geostrategischer Interessen: Die Zerschlagung der DAANES und die Unterdrückung der kurdischen Selbstverwaltung. Diese Milizenkoalition, die auch als Syrische Nationalarmee (SNA) bekannt ist und aus islamistischen Gruppen wie Ahrar al-Sharqiyah besteht, setzt ehemalige IS-Söldner ein und ist für schwere Kriegsverbrechen bekannt, darunter die Ermordung der kurdischen Politikerin Hevrîn Xelef im Jahr 2019. Ihr Ziel ist es, die kurdischen Gebiete zu isolieren, indem strategische Versorgungsrouten wie die M4 blockiert und kurdische Enklaven belagert werden.
Nach der Besetzung Aleppos wehte über der Zitadelle der zweitgrößten Stadt Syriens die Fahne der Türkei (Fotoquelle: X) | Das Titelbild zeigt Abu Mohammad al-Jolani bei einem Besuch Aleppos am vergangenen Mittwoch © HTS/Telegram
Humanitäre und politische Konsequenzen
Für Rojava steht die Existenz auf dem Spiel. Die Blockade strategischer Versorgungslinien könnte zu einer humanitären Katastrophe für hunderttausende Binnengeflüchtete führen, insbesondere für die ehemaligen Bewohner:innen der Region Şehba. Mehr als 200.000 Menschen hatten dort nach der türkischen Invasion in Efrîn 2018 Zuflucht gefunden. Sechs Jahre lang lebten sie dort unter prekären Bedingungen und in der Hoffnung, nach Efrîn zurückkehren zu können. Nach dem Angriff der von der Türkei in Idlib aufgerüsteten Terrormiliz HTS auf Aleppo am 27. November wurden Şehba und die Stadt Tel Rifat (Tall Rifaat) am 2. Dezember von türkischen Söldnertruppen eingekesselt und besetzt. Die Vertriebenen aus Efrîn mussten zum zweiten Mal fliehen. Die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens bittet dringend um humanitäre Soforthilfe für die Versorgung der Geflüchteten. Mehr als 120.000 Menschen sind bereits in den sicheren Gebieten der Selbstverwaltung angekommen und werden dort unter schwierigen Bedingungen versorgt.
Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) warfen der von der Türkei gesteuerten SNA am Donnerstag vor, tausende Menschen in Şehba an der Flucht gehindert und eingekesselt zu haben. QSD-Sprecher Farhad Şamî sprach von einer „großangelegten Entführungs- und Versklavungskampagne“ durch SNA-Söldner und rund 15.000 gefangenen Menschen. Mehrere hunderte Zivilist:innen seien zudem gezielt in der wenige Kilometer nordöstlich von Aleppo gelegenen Industriestadt Sheikh Najjar verschleppt worden. Sie befanden sich demnach in einem Konvoi auf dem Weg in die DAANES, als 120 Fahrzeuge von den Dschihadisten abgefangen wurden. Zuvor hatte die sogenannte SNA mehrfach eine von den QSD mit HTS ausgehandelte Evakuierung der Zivilbevölkerung blockiert. Ethnische Säuberungen und Vertreibungen durch pro-türkische Milizen dienen der langfristigen Neuordnung der Bevölkerungsstruktur zugunsten islamistischer und pro-türkischer Gruppen.
Rolle der Türkei und externe Unterstützung
Die Türkei spielt eine zentrale Rolle bei der Destabilisierung Nordsyriens. Bereits 2014 wurde der türkische Geheimdienst MİT beim Waffenschmuggel an dschihadistische Gruppen, darunter den IS, entlarvt. Diese Unterstützung wird nun offen fortgesetzt, finanziert mit Milliarden aus Katar und unterstützt durch gut ausgebildete Milizionäre. Sowohl die HTS als auch die Milizen der Fajr al-Hurriya profitieren von dieser Unterstützung, was die Bedrohung für Rojava weiter erhöht.
Umso erstaunlicher ist es, dass Bundesaußenministerin Annalena Baerbock nach einem Treffen mit ihrem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan bei einem NATO-Treffen der Türkei eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der aktuellen Krise in Syrien zuschreibt und von der Priorität des Schutzes von Zivilisten und Minderheiten spricht. Die Türkei und ihre dschihadistischen Partner stellen die größte Bedrohung für die Menschen in der gesamten Region dar. Hunderttausende geflüchtete Kurd:innen, aber auch die Verfolgung von Êzîd:innen, Christ:innen und Schiit:innen durch die Verbrechen der türkischen Partner in Nordsyrien sind Ausdruck dessen. Die Bundesregierung muss dem Treiben des NATO-Partners in der Region durch einen sofortigen Exportstopp deutscher Rüstungsgüter und mögliche Sanktionen Einhalt gebieten. Baerbocks Äußerungen hingegen unterstützen die Verbrechen des türkischen Staates.
Eine existenzielle Bedrohung
Die Aktivitäten von HTS und Fajr al-Hurriya markieren zwei Seiten derselben Medaille: Während HTS versucht, sich neu zu positionieren, bleibt ihre dschihadistische Ideologie unverändert. Fajr al-Hurriya hingegen verfolgt direkt die Interessen Ankaras und setzt auf militärische Repression und ethnische Säuberungen. Rojava ist einer doppelten Bedrohung ausgesetzt – ideologisch durch HTS und geopolitisch durch die Türkei. Dennoch ist der Kampf um die Zukunft der Region noch nicht entschieden.
Der Text ist dem aktuellen Newsletter der Berliner Vereins Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. entnommen