Vom Besetzten Acker zum Demokratischen Konföderalismus

Aktivst*innen auf dem besetzen Acker in Neu-Eichenberg diskutieren über die Revolution in Rojava und berichten von ihrer Besetzung.

Seit dem 4. Mai ist ein Acker bei Neu-Eichenberg besetzt. Über 100 Tage haben Aktivist*innen dort zusammen mit Dorfbewohner*innen und der Bürger*innen-Initiative ein Camp und einen alternativen Alltag aufgebaut. Von der Straße aus sind schon von weitem die Tripods (dreibeinige Türme), die im Falle einer Räumung Schutz bieten sollen, zu sehen. Auf dem höchsten weht die Fahne der Antifa Enternasyonal im Wind. „Herzlich willkommen“ steht am Anfang des Weges zum Camp.

Die Besetzung ist gegen den geplanten Bau eines Logistikzentrums entstanden, das über 80 Hektar Fläche umfassen soll. Dieses Zentrum soll vor allem für den Online-Versandhandel genutzt werden. Sollte dieses Zentrum gebaut werden, würden jeden Tag um die 2000 LKWs Waren bringen und abholen. Das dadurch erhöhte Verkehrsaufkommen in der Region würde sowohl viel Lärm als auch eine immens höhere Luftverschmutzung bedeuten. Dies wäre nicht nur schlecht für die umliegenden Dörfer, sondern insgesamt für die Umwelt. Und weltweit werden immer mehr fruchtbare Böden versiegelt, wie hier für das geplante Logistikzentrum. Dabei sind die Äcker und Felder immens wichtig, sie speichern nicht nur CO2, sondern auch Wasser.

In dem Camp selbst wurde als erstes ein großer Garten angelegt. „Wir wollen zeigen, wie wichtig der Boden ist und wir wollen zeigen, dass wir uns kollektiv regional und ökologisch versorgen können”, sagt ein Aktivist, der seit dem ersten Tag der Besetzung dabei ist.

Auch wenn der Großteil der Bewohner*innen des nur wenige Meter entfernten Dorfes gegen den Bau des Logistikzentrums ist und sich nicht nur über die Ackerbesetzung freut, sondern diese bewusst mit initiiert hat oder mit Logistik wie Essen und Strom unterstützt, gibt es auch Gegenstimmen. Einige neoliberale Kräfte sehen das Zentrum als wichtigen kapitalistischen Fortschritt für die Region an. Die Folgen für Natur und Mensch sind dabei höchstens zweitrangig. Auch die Parteien SPD und CDU stehen hinter dem Vorhaben. Zwar äußern sich die Grünen in der Gemeinde kritisch zu dem Zentrum, sehen sich aber an den Beschluss der Schwarz-Grünen Landesregierung in Hessen gebunden, der das Logistikzentrum in Neu-Eichenberg abgesegnet hat.

Dass die Politik der Parteien und die Interessen der Menschen oft nicht zusammen gehen, wird hier einmal mehr deutlich. Also haben die Dorfbewohner*innen, Aktivist*innen und Studierende der Nahegelegenen Universität in Witzenhausen angefangen sich zusammenzuschließen, sich zu organisieren und kreative und radikale Aktionsformen zu finden. Das Ergebnis können wir nun auf dem Acker in Neu-Eichenberg sehen.

Es geht um mehr als den Acker

Auf dem Gelände gibt es nicht nur die Türme zum Schutz vor einer Räumung und den großen Garten, sondern auch eine Küche, in der für alle - meist vegan - gekocht wird, ein Kinderzelt, Komposttoiletten, ein Lagerraum, ein Gewächshaus, eine Umsonstecke, eine Werkstatt und ein großes Zelt, in dem Workshops, Vorträge und Veranstaltungen stattfinden. Es wird nicht nur versucht, das alltägliche Leben kollektiv zu gestalten, sondern auch über Widerstandsformen, alternative Gesellschaftsmodelle und Perspektiven diskutiert. Das Camp ist zu einem sozialen Treffpunkt geworden, an dem verschiedenste Menschen aus dem Dorf, der direkten Umgebung, sowie von weiter weg zusammenkommen. Es geht schon lange nicht mehr nur um diesen Acker. Die Besetzung sieht sich im Zusammenhang einer globalen Klimabewegung und einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung. Wir wollen „System Change not Climate Change”, sagt ein Aktivist.

Und dabei beziehen sich nicht wenig Menschen im Camp auf die Revolution in Rojava: „Meine Idealvorstellung ist, dass wir nachdem wir das Logistikzentrum verhindert haben, zusammenkommen und diskutieren, wie der Demokratische Konföderalismus für Neu-Eichenberg aussehen könnte. Durch die Diskussion über den Bau des Zentrums sind einige Dinge ins Rollen gekommen. Die Menschen stellen sich grundlegende Fragen: Wie sieht die Perspektive in und für dieses Dorf aus? Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie können wir ökologisch und kollektiv leben? Das alles sind Fragen, mit denen wir sehr gut an die Revolution in Rojava anknüpfen können. Außerdem wurde die Verbundenheit mit Rojava durch Menschen aus dem Hambacher Forst, die nun auch Teil der Besetzung des Ackers sind, hierhergebracht. Diese sind nicht nur gedanklich, sondern ganz konkret mit Rojava verknüpft, denn auch Aktivist*innen aus dem Hambi, sind nach Rojava gegangen. Ich sehe unsere Kämpfe als gemeinsame Kämpfe an.”

Workshop im Zelt zur Revolution in Rojava

Eben diese Verknüpfung sollte auch bei dem Workshop, der am Wochenende im großen Zelt stattfand, ein wichtiges Thema sein. In diesem Rahmen stellten drei Internatonalist*innen, die selbst in Rojava waren, die Revolution, die Gesellschaft und verschiedene Projekte in Rojava, auf der Ackerbesetzung vor.

Es ging vor allem um die Grundlagen, auf denen eine freien Gesellschaft aufbaut wird, um den Umgang mit Widersprüchen und Schwierigkeiten im Aufbau und die Verknüpfung von widerständigen Projekten und Aktionen in Deutschland, mit den revolutionären Entwicklungen in Kurdistan und anderen Teilen der Welt.

In einem kurzen Exkurs begonnen im Neolithikum, der natürlichen Gesellschaft und der Rolle der Frauen in dieser, näherte sich der Workshop an die Entstehung des patriarchalen, etatistischen und kapitalistischen Systems an, in dem wir heute leben. Denn diese geschichtliche Analyse ist auch für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur wichtig. Parallel zur Entstehung von Hierarchien und des Staates veränderte sich die Vorstellung der Menschen von der Natur. Wurde Natur in der natürlichen Gesellschaft als belebt, heilig, und dem Menschen das notwendige zum Leben schenkende Kraft verstanden, wird die Natur im Kapitalismus als unbelebt und Objekt, welches ausgebeutet und verwertet werden kann, angesehen.

Dabei hervorgehoben wurde die Rolle der Jugend als treibende Kraft von gesellschaftlichen Veränderungen. Und die Verantwortung eben dieser gegenüber der Zukunft. Gerade darin besteht ein Zusammenhang zu sich entwickelten Bewegungen hier. So ist z.B. Fridays for Future eine klare Jugendbewegung, die für ihre und die Zukunft aller kämpft.

„Jinwar – Das Dorf der freien Frauen” und „Make Rojava Green Again”

Dabei geht es nicht um ein „zurück” zur natürlichen Gesellschaft, sondern darum, der Erzählung des Kapitalismus, dies sei das Ende der Geschichte und der Kapitalismus das beste und einzig mögliche System, etwas entgegenzusetzen und zu sagen: „Eine andere Welt ist möglich!”. Indem wir uns auf die Werte, die damals das Leben bestimmten, wie Kollektivität, Solidarität, Naturverbundenheit u.a. beziehen, an diese anknüpfen und diese neu aufleben lassen, können wir eine neue demokratische und freie Gesellschaft entwickeln. Weiterhin beschrieben die drei Internationalist*innen die Idee des Demokratischen Konföderalsimus. Und um diese theoretische Annäherung konkreter und greifbarer zu machen, wurde „Jinwar – Das Dorf der freien Frauen” und die Kampagne „Make Rojava Green Again” vorgestellt.

Die beiden Beispiele verkörpern in sich die Grundlagen der Revolution und machen diese vorstellbar und lebendig. Besonderes Augenmerk galt der gesellschaftlichen Veränderung. Es ging darum, wie die Gesellschaft Projekte entwickelt, sich organisiert und mit Widersprüchen umgeht. Wie lang erlernte systemische Strukturen erkannt werden und daran gearbeitet wird, dass sich diese langsam verändern. Dieser Prozess ist langwierig und anstrengend, zugleich motivierend und notwendige Grundlage für eine richtige Revolution, von der alle Teil sind.

In der anschließenden Workshop-Phase diskutierten die Teilnehmenden verschiedene Fragen. In welcher „Tradition” sehen wir unsere Kämpfe? Kennen wir die Geschichte aus der Region? Mit welchen aktuellen Kämpfen fühlen wir uns verbunden? Wie können wir unsere und diese Kämpfe enger verknüpfen? Was verstehen wir unter Selbstverwaltung, Geschlechterbefreiung und Ökologie?

Die demokratischen Moderne aufbauen

Deutlich wurde bei den Fragen zur Geschichte, dass es viele Anknüpfungspunkte und eine vielfältige Widerstandsgeschichte auch in der Bundesrepublik gibt, wir allerdings wenig Wissen und Bewusstsein darüber haben und uns nur selten in unserer alltäglichen Praxis in Bezug zu diesen Kämpfen und unserer Geschichte setzen. Weiterhin wurde über die Wichtigkeit verschiedener Kämpfe in Deutschland gesprochen. Als ein großes Problem wurde analysiert, dass die Kämpfe oft nicht miteinander verbunden sind, sondern nebeneinander laufen. Das noch die Vokabeln, aber auch das Bewusstsein und das Gefühl fehlen, und all diese Kämpfe zusammengehören. Es fehlt noch der Rahmen, der die Einheit der vielfältigen Kämpfe schafft. Doch könnten wir schon heute all diese Kämpfe zusammen denken, also globale Bewegung zum Aufbau einer demokratischen Moderne.