Jineolojî Rojava und der Widerstand im Hambacher Forst
Das Jineolojî-Komitee Rojava zieht die Verbindung des Widerstands im Hambacher Forst mit Kämpfen weltweit und erklärt sich solidarisch.
Das Jineolojî-Komitee Rojava zieht die Verbindung des Widerstands im Hambacher Forst mit Kämpfen weltweit und erklärt sich solidarisch.
„Es ist die Logik von Staat, Macht und Gewalt, die Logik von Patriarchat und Kapitalismus, der wir uns entgegenstellen müssen. Wir wollen nicht nur zerstören, wir wollen Alternativen aufbauen“, erklärt das Jineolojî-Komitee Rojava in einer ausführlichen Solidaritätsbotschaft an den Widerstand im Hambacher Forst:
„In den letzten Tagen und Wochen erreichen uns immer mehr Meldungen um die Räumung der Hambacher-Forst-Besetzung im Westen Deutschlands zwischen Aachen und Köln. Von Rojava aus verfolgen wir die Geschehnisse dort mit. Aufgrund der letzten Entwicklungen, die zum Tod des Journalisten und Aktivisten Steffen Horst Meyn geführt haben, halten wir es für wichtig, auch ein paar Worte zu schreiben.
Zum Hintergrund
Der Hambacher Forst ist bekannt als einer der einst größten und ältesten Wälder Westeuropas. Das Alter dieses Waldes wird auf bis zu 12.000 Jahre geschätzt, d. h. er entstand zu Ende der letzten Eiszeit. Er wurde Zeuge der Entwicklung menschlicher Zivilisationen und Kultur. Jahrtausende lang war er nicht wegzudenkender Bestandteil des Lebens zahlloser Lebewesen – gleichzeitig Lebensraum und die Einheit der vielfältigen Leben an sich.
Wälder bildeten schon immer auch einen wichtigen Bestandteil menschlichen Lebens. Schutz und Nahrung gewährend, hat das Holz der Bäume den Menschen auch gleichzeitig als Rohmaterial der Werkzeugherstellung sowie als Brennholz zum Kochen, Wärmen und Lichtspenden in dunklen Nächten gedient. Wälder sind wichtige Wiegen der Kultur.
Die Entstehung des Patriarchats jedoch, welche mit sich die Entstehung von Hierarchie, Macht, Herrschaft und Unterdrückung gebracht hat, bewirkte enorme Veränderungen im menschlichen Geist und Verhalten. Die Schönheit und Sinnhaftigkeit einer Mentalität und Praxis, die das schützt und erhält, was auch dich schützt und erhält, wurde versucht zu brechen. Emotionsloses Kalkulieren, Neid, Niedertracht und Gier schlugen einen Keil in die Gesellschaft – sie entzweiten die Menschen und die Natur. Die Gefühle und die Logik wurden zwei voneinander unabhängige Prinzipien. Womit wir uns heute konfrontiert sehen, ist Ergebnis dessen: Die Gier nach Anhäufung von wirtschaftlicher und politischer Macht führt zur Zerstörung des Lebens an sich.
Der Hambacher Forst wird im Auftrag des Großkonzerns RWE aufgrund der unter ihm liegenden Braunkohle komplett abgeholzt und zerstört. Die Braunkohle im Rheinland ist vergleichbar mit dem „Rheingold” des Nibelungenliedes: In dem Epos geht es um drei Schwestern, die das Gold im Rhein bewachen. Solange das Gold am Grunde des Rheins liegt, bedeutet es nur Gutes. Wer aber der Liebe zum Leben für immer entsagt, kann es an sich reißen, verarbeiten, daraus Macht und Unterdrückung erschaffen und die Bevölkerung in die Sklaverei treiben. So verflucht der Zwerg Alberich die Liebe, stiehlt das Gold aus dem Rhein und schmiedet daraus einen Ring, woraufhin ewiger Krieg um die Oberhand der Macht auf der Erde entbricht. Wie das Gold, so wird auch die Braunkohle nicht für ein gutes Leben, sondern für Macht und Zerstörung benutzt.
Es ist dabei wichtig anzuerkennen, dass sich Herrschaft und Unterdrückung niemals in der gesamten Gesellschaft festsetzen konnten, sondern es immer auch Widerstand gab und Versuche eine Gesellschaft wieder aufzubauen, in der Ethik, Gerechtigkeit und eine auf Vielfalt beruhende Gleichheit eine Realität darstellen. Eine Gesellschaft, in der Gemeinschaftlichkeit und gegenseitige Unterstützung gegen die Vereinzelung und den Kampf aller gegen alle im Kapitalismus steht. Eine Gesellschaft, in der Schönheit ein geistiger Wert ist und das Leben voller Bedeutung, anstelle von Oberflächlichkeit, materiellem Reichtum, innerer Leere und Perspektivlosigkeit.
Der jahrzehntelange Widerstand von Teilen der Bevölkerung im Rheinland gegen die Zerstörung ihrer Dörfer, Äcker, Wiesen und Wälder ist Ausdruck dieser Kultur und des Wunsches nach Freiheit und Gerechtigkeit.
Der Kampf um den Hambacher Forst und gegen den Kapitalismus
Die Besetzung des Hambacher Forstes durch eine Gruppe von Umweltaktivist*innen und Antikapitalist*innen im Jahre 2012 knüpfte an den lokalen Widerstand an und stärkte ihn. Gleichzeitig wurde die lokale Umweltzerstörung in weitere Zusammenhänge gesetzt:
Der Zusammenhang der Braunkohleindustrie mit dem Kapitalismus wurde in den Fokus gerückt. Denn der Braunkohleabbau zieht nicht nur die Zerstörung von Natur und Lebensraum, Vertreibung der lokalen Bevölkerung, gesundheitliche Probleme, Monopolisierung der Stromindustrie und der Arbeitsmöglichkeiten in der Region mit sich. Gleichzeitig werden durch den vorangetriebenen Klimawandel und die an die Braunkohlestromversorgung angebundene Chemie-, Waffen- und Kriegsindustrie weltweit Leid und Zerstörung verursacht. Wir sehen viele Gemeinsamkeiten in der Braunkohleindustrie von RWE im Rheinland und den Leopard-2-Panzern, die mit dessen Strom und der gleichen Logik des Verfluchens des Lebens durch Rheinmetall hergestellt werden und durch den türkischen Staat unter anderem in Efrîn dazu benutzt werden, die Zivilbevölkerung zu ermorden und ein System anzugreifen, das eine Alternative zu Patriarchat und Kapitalismus darstellt.
In diesem Sinne ist es wichtig, das Thema ganzheitlich zu betrachten und unsere Kämpfe für eine gerechte Welt miteinander zu verbinden, von Rojava bis zum Hambacher Forst. Für eine Welt, in der alle verschiedenen Menschen und andere Lebewesen in Balance miteinander leben können, ohne sich gegenseitig zu unterdrücken oder zu vernichten.
Es ist die Logik von Staat, Macht und Gewalt, die Logik von Patriarchat und Kapitalismus, der wir uns entgegenstellen müssen. Wir wollen nicht nur zerstören, wir wollen Alternativen aufbauen. Dabei ist es wichtig, für das Wohlergehen der Gesellschaft zu kämpfen – unabhängig von Unterschieden des Geschlechts, des Alters, der Klasse, des Glauben oder der Nation. Und es ist wichtig zu erkennen, dass eine gut funktionierende, basisdemokratische, ethische, gerechte, antisexistische und ökologische Gesellschaft innerhalb des kapitalistischen Systems nicht verwirklichbar ist. Denn wie schon Adorno feststellte: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.” Wir aber kämpfen für ein richtiges Leben. Wir kämpfen dafür, dass unsere Träume Wirklichkeit werden.
Der Kampf um den Hambacher Forst teilt eine antikapitalistische, antifaschistische Grundhaltung. Gleichzeitig wird auf verschiedenste Weise versucht, ein gemeinschaftliches Leben aufzubauen. Dem sehen wir uns verbunden, denn es geht um das Aufhalten von Zerstörung und den Aufbau von Alternativen.
In den letzten Jahren wurde bezüglich dieses Kampfes immer wieder die Verbindung kapitalistischer Großkonzerne wie RWE, Staatsstrukturen und den großen Medienkonzernen deutlich, wenn es um Denunziation, Marginalisierung und Delegitimierung des Widerstandes ging. In einem NATO-weit angelegten Konzept der Widerstandsbekämpfung und dessen Entwicklung scheinen auch der Hambacher Forst und dessen Unterstützer*innen einen Platz gefunden zu haben. Wo das Zuckerbrot nicht mehr reicht, kommt wieder die bekannte Peitsche ins Spiel. In diesen Zusammenhang passt auch der Entwurf des neuen Polizeigesetzes im Bundesland Nordrhein-Westfalen: Verschärfte Überwachung unter anderem von Telefonen, auf Polizeiverdacht (d.h. Polizeiwillkür) durchführbare einmonatige Gewahrsamshaft und die Planung des Testens von neuen Taser-Waffen (nicht) zufällig im Kreis Kerpen, in den das Gebiet des Hambacher Forstes fällt. Es ist von „terroristischen Gefährdern” die Rede. Damit soll in der Gesellschaft ein Bild entstehen, das den Widerstand delegitimiert. Es soll einen klaren Trennstrich zwischen Bevölkerung und Aktivist*innen ziehen. Es passiert heute schnell, dass widerstandleistende Menschen von Staaten als Terroristen bezeichnet werden. Dabei verschleiern diese Begrifflichkeiten eigentlich nur die Realität und die Identität der wahren „Herrscher durch Angst und Gewalt”.
Seit Anfang September 2018 wird nun die sechsjährige Besetzung des Hambacher Forstes durch die deutsche Polizei geräumt. Massive zivile Protestaktionen konnten den Staat nicht umstimmen, der sich nicht nach menschlichem Wohl, sondern nach Zahlen, Profit und Erhalt der eigenen Herrschaft richtet. Die noch immer andauernde Räumungsaktion führte zum Tod eines unabhängigen Journalisten und Aktivisten. Steffen Horst Meyn hatte sich zum Auftrag gemacht, die Zensur der Presse zu überwinden und ganz klar nicht „objektiv “ zu sein in einem Kampf, der ohne Emotionen und Empathie weder betrachtet noch geführt werden kann. Er gab dafür sein Leben. Wir sind es ihm schuldig, diesen Kampf für eine bessere Welt weiterzuführen und statt der ganzen Lügen zu versuchen, die Wahrheit zu finden und diese mit der Welt zu teilen.
Wir müssen jedoch auch feststellen, dass uns der Tod eines Menschen im Zusammenhang mit der Räumungsaktion nicht überrascht. Wer die vergangenen Jahre das Verhalten von Polizei und Sicherheitspersonal bezüglich der Aktivist*innen im Hambacher Forst beobachtet hat, kann erkennen, dass es vermehrt und mit steigendem Potenzial eine Gefahr für menschliches Leben gab. Es liegt in der Logik des staatlich-patriarchalen Systems, mit Leben zu spielen und auf Risiko zu setzen. Tagtäglich werden Tausende zerstörte Menschenleben für Profite und Herrschaftserhalt in Kauf genommen bzw. ganz klar mit einkalkuliert. Menschenleben werden sozial, kulturell, gesundheitlich, wirtschaftlich und politisch zerstört oder auch ganz direkt physisch angegriffen. Wir erinnern uns an Remi Fraisse, der 2014 in Frankreich bei einem Protest gegen ein Staudammprojekt von der Polizei getötet wurde. Wir erinnern uns an Santiago Maldonado, der sich in Argentinien für die Landrechte der indigenen Bevölkerung eingesetzt hat und daraufhin auf ungeklärte Weise umgebracht wurde. Wir erinnern uns an die Internationalistin Rachel Corrie, die 2003 in Gaza von einem israelischen Bulldozer totgefahren wurde. Wir erinnern uns an die Kanadierin Annie Mae Aquash, die sich dem Kampf der indigenen Amerikaner*innen anschloss und 1975 auf ungeklärte Weise starb. Wir erinnern uns an Berta Caceres, die als Indigene in Honduras den Kampf gegen eine Hydroelektrik-Anlage anführte und 2016 getötet wurde. Wir erinnern uns an Dora Alicia Recinos, die 2009 im Kampf gegen eine Goldmine in El Salvador getötet wurde. Wir erinnern uns an den Lehrer Galeano der Zapatistischen Gemeinschaft, der bei der Verteidigung seines Landes, der Rechte seines Volkes und der Bildung getötet wurde. Wir erinnern uns an Vital Michalon, der in Frankreich im Protest gegen ein Atomkraftwerk getötet wurde. Es gibt tausende Namen, tausende Leben, tausende mutige und geliebte Menschen. Wir erinnern uns an alle von ihnen und lassen sie zum tausendfachen Willen werden, diese Welt zu verändern. Zum tausendfachen Willen, für die Werte von Gerechtigkeit, Vielfalt, Kommunalität und Freiheit zu kämpfen. Zum tausendfachen Willen, dem Leben wieder Sinn zu geben!
Von Rojava aus schicken wir den Menschen im Hambacher Forst, in der Region und allen, die sich auf verschiedenste Weise am Widerstand beteiligen, viele solidarische und revolutionäre Grüße, viel Kraft und Energie! Es gibt keinen Rückzugsort im falschen System, deshalb darf sich auch unser Widerstand nicht zurückziehen.
Gegen Staat, Macht und Gewalt! Für eine basisdemokratische, ökologische Gesellschaft und die Befreiung der Frau! Widerstand ist Leben! Şehîd Namirin!“