Mehr als fünfzig Rechtsanwaltskammern in der Türkei haben sich in einem eindringlichen Appell gegen den Marmorsteinbruch ausgesprochen, der im kurdischen Dorf Şêxan (tr. Yurtbaşı) in der Provinz Wan angelegt wird. „Lebensräume verteidigen ist keine Straftat, Umweltschutz ist Menschenrecht, heißt es in der gemeinsamen Erklärung von Vorsitzenden von insgesamt 58 Kammern von Istanbul bis Colemêrg (Hakkari).
Die Bevölkerung von Şêxan wehrt sich seit fast zwei Jahrzehnten gegen die Betreiber des Marmorsteinbruchs in ihrem achtzig Kilometer von der Kreisstadt Payîzava (Gürpınar) entfernten Ort. Die Geschichte des Steinbruchs begann bereits 2003. Aufgrund des Widerstands der Anwohner:innen stellte die Firma DIMER den Marmorabbau 2008 ein. Zwölf Jahre lang herrschte Ruhe in dem Steinbruch, bis dieser im vergangenen Jahr der Firma SAFBAZ überschrieben wurde. Mitte letzter Woche kam es in Şêxan zu Anspannungen zwischen der Dorfbevölkerung und dem eingerückten Militär, Soldaten setzten Schusswaffen und abgelaufenes Tränengas ein. Vier Personen wurden vorübergehend festgenommen.
Ortsschild am Eingang von Şêxan
„Gewinnorientierte Eingriffe in Natur und Lebensräume von Mensch und Tier auf Grundlage unwissenschaftlicher Herangehensweisen gefährden unser aller Gesundheit, haben schwerwiegende Auswirkungen auf alle Lebewesen und bürden nachfolgenden Generationen eine große Hypothek auf“, stellen die Kammervorsitzenden in ihrem Appell fest. Die derzeitige Lage zum Naturschutz in der Türkei, der im türkischen Verfassungsrecht in Artikel 56 – „Jedermann hat das Recht auf Leben in einer gesunden und ausgeglichenen Umwelt. Die Entwicklung der Umwelt, die Gewährleistung einer gesunden Umwelt und die Verhinderung der Umweltverschmutzung sind die Pflicht des Staates und der Bürger.” – geregelt ist, kündige noch wesentlich Schlimmeres für die Zukunft an, weil der Naturschutz faktisch abgeschafft worden sei.
Die Szenen aus Şêxan beim Angriff des türkischen Militärs „gegen Menschen, die lediglich ihr Grundrecht auf Protest in Anspruch nahmen“, bezeichnen die Rechtsanwaltskammern als ein „Abbild eines Schlachtfeldes“. Die Schüsse in die Menschenmenge und Abwürfe von Tränengasgranaten, die „trotz Hinweisen, dass sie nach Ablauf des Datums nicht mehr benutzt werden dürfen“, hätten zu einer „Vielzahl von Rechtsverletzungen“ geführt und gegen das Völkerrecht verstoßen.
Die Unterzeichnenden des Appells verlangen von den zuständigen Behörden eine sofortige und bedingungslose Einstellung des Marmorabbau in Şêxan. „Gleiches fordern wir für alle anderen umweltzerstörerischen und gesundheitsgefährdenden Projekte im Land. Die profitorientiere Politik gegen unsere Natur, Lebensräume und Lebewesen muss enden. Den Bürgerinnen und Bürgern darf ihr Demonstrationsrecht nicht verwehrt werden.“ Die Kammervorsitzenden verlangen zudem eine Schadenswiedergutmachung für die Menschen in Şêxan und eine offizielle Entschuldigung.