Vorbereitung auf neue Besatzungsoperation in Nordsyrien

Was Erdoğan am vergangenen Montag nach einer Kabinettssitzung gesagt hat, stimmt Wort für Wort mit dem überein, was er vor der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê geäußert hat. Der türkische Diktator braucht ein militärisches Ablenkungsmanöver.

Am 28. September sind bei zwei Bombenanschlägen in Dscharablus zwei Menschen getötet worden, 15 Personen wurden verletzt. Am 10. Oktober wurden bei einem Angriff auf einen fahrenden Panzerwagen zwei Angehörige einer polizeilichen Sondereinheit, Cihat Şahin und Fatih Doğan, getötet, zwei weitere Polizisten der Einheit wurden verwundet. Das türkische Innenministerium und TRT berichteten, der Angriff sei von Tel Rifat aus erfolgt von den YPG begangen worden. Am 11. Oktober kamen bei einem Autobombenanschlag in Efrîn vier Menschen ums Leben. Das türkische Innenministerium machte die „PKK/YPG“ dafür verantwortlich.

Am Abend des 11. Oktober ging Tayyip Erdoğan nach einer Kabinettssitzung auf das Thema ein und sagte: „Bei den Terrorangriffen aus Syrien auf die Türkei ist unsere Geduld erschöpft. Wir sind entschlossen, die von dort ausgehenden Gefahren entweder mit den dort einflussreichen Kräften oder mit unseren eigenen Mitteln zu eliminieren.“

Dass von Rojava aus kein Angriff auf die Türkei erfolgt ist und nicht einmal ein einziger Stein geworfen wurde, wissen Erdoğan und Co genauso gut wie die UN, die USA und Russland. Tayyip Erdoğan hat jedoch bei der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê gesehen, dass der Vorschlag seines Adjutanten Hakan Fidan [Chef des Nachrichtendienstes MIT], einfach ein paar Granaten von Syrien aus auf die Türkei abzufeuern, um einen Konflikt zu schaffen, sehr wohl genützt hat. Dieselbe banale Methode will er jetzt gemeinsam mit Russland, den USA, den UN und der EU in Tel Rifat und Minbic ausprobieren.

Was Erdoğan am vergangenen Montagabend gesagt hat, stimmt Wort für Wort mit dem überein, was er vor der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê geäußert hat. Mit „den dort einflussreichen Kräften“ meint er Russland, denn US-Präsident Joe Biden hat am 7. Oktober erklärt, dass die Operationen der Türkei in Syrien den Kampf gegen den IS unterminieren. Danach wurde der Notstand der USA in Syrien verlängert.

Warum hat Biden das getan? Das Zusammentreffen zwischen Putin und Erdoğan am 28. September in Sotschi war ein kritisches Gespräch. Weder vorher noch hinterher wurden Informationen über die Inhalte veröffentlicht. Russland ist jedoch entschlossen, die bestehende Situation in Idlib zu beenden. Die türkischen Truppen und die Dschihadisten der Syrischen Nationalarmee (SNA) und der Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) sollen aus Idlib und von der Verbindungsstraße M4 abgezogen werden. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat die Türkei diesbezüglich wiederholt verwarnt.

Auch wenn es in den Medien nicht benannt worden ist, war Idlib das Hauptthema in Sotschi. Putin hat Erdoğan aufgefordert, sich mit seinen Milizen aus Idlib zurückzuziehen. Tayyip Erdoğan hat nicht die Stärke und die Möglichkeit, diese Forderung zurückzuweisen. Er hat sie akzeptiert. Im Gegenzug hat er jedoch Unterstützung für eine türkisch-islamistische Besatzung von Tel Rifat und Minbic eingefordert. Putin will jedoch keine Besatzung westlich des Euphrat unterstützen und hat Unterstützung für eine Operation in dem von den USA kontrollierten Gebiet östlich des Euphrat zugesagt.

Den USA sind die Inhalte des Gesprächs in Sotschi und der Verhandlungen bekannt. Dass die türkische Armee seit langer Zeit Artillerie- und Luftangriffe auf das Gebiet um Til Temir östlich des Euphrat durchführt und Truppen mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen an der Grenze zusammengezogen hat, erhärtet die Wahrscheinlichkeit eines solchen Angriffs. Die Warnung von US-Präsident Biden an die Türkei und die Verlängerung des Notstands in Syrien sind in diesem Kontext erfolgt.

Nach der US-Erklärung überdenken Russland und die Türkei die in Sotschi getroffene Vereinbarung. Die aufeinander folgenden Anschläge in der türkischen Besatzungszone in Nordsyrien und die Erklärung von Erdoğan deuten auf die Vorbereitung einer Invasion hin. Dass nach der Warnung der USA Tel Rifat als Verhandlungsmasse im Gegenzug zu Idlib ist, lässt sich unschwer aus den Nachrichten von AA und TRT herauslesen. Die Haltung der USA und Russlands in der Vergangenheit ist die größte Garantie sowohl für Tayyip Erdoğan als auch für die Dschihadistengruppen vor Ort gewesen.

Werden die USA und Russland wie bei den vorangegangenen Besatzungsangriffen zu einer möglichen Invasion schweigen? Wird bei einem Bodenangriff erneut der Luftraum für die etliche Male von den YPG/YPJ und QSD besiegte Allianz zwischen der Türkei und dem IS geöffnet werden? Wenn diese Möglichkeit gesichert ist, können Tayyip Erdoğan und die Allianz der türkischen Streitkräfte mit dem IS eine neue Invasion durchführen.

Weil die Invasion in Südkurdistan nicht wie gewünscht verläuft, haben sie ihren Radar auf Rojava ausgerichtet und es sieht so aus, als ob das anvisierte Ziel Tel Rifat ist. Dass vor einer Weile mehrere Generäle in den Ruhestand versetzt werden wollten, ein Teil aus den türkischen Streitkräften ausgeschieden ist und ihre Namen und Anzahl beharrlich verheimlicht werden, steht im Zusammenhang mit Meinungsverschiedenheiten zum Thema einer weiteren Invasion in Syrien.

Der Möchtegern-Diktator, der für das Glück und den Erfolg von sich und seiner Familie jede Gemeinheit und Schlechtigkeit ins Auge fasst, trifft Vorbereitungen für eine neue Besatzung und einen neuen Krieg. Was eine solche Invasion bedeutet und was sie die Türkei kosten wird, kümmert ihn nicht.

Der ehemalige Offizier und Mitbegründer der Partei DEVA, Metin Gürcan, geht davon aus, dass Erdoğan und die AKP sich von einer erneuten Operation in Nordsyrien trotz großer Risiken eine Ablenkung von ihrer Regierungsunfähigkeit angesichts von Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, steigenden Lebensmittelpreisen und Wertverlust der Türkischen Lira versprechen: „Die Bildschirme können wochenlang mit Terror- und Sicherheitsexperten und Strategen gefüllt werden, die vor einer Landkarte von ,diesem strategischen Hügel und jenem strategischen Dorf' berichten.“ Damit würde auch der kommende Winter für die Politik bequem verlaufen.

Der vom gewöhnlichen Beamten zum Diktator im Palast aufgestiegene Mann weiß von den täglichen negativen Reaktionen auf sich und seine Partei und der Abstiegstendenz bei Wahlumfragen. Er weiß auch, dass er sich mit einer normalen Wahl nicht an der Macht halten kann. Der einzige Weg, um den Absturz zu verhindern und sich und seine Familie zu retten, sieht er in einem militärischen Sieg, der an irgendeinem Ort erfolgen muss.


Die Kolumne von Ferda Çetin ist im türkischen Original in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika erschienen.