Athen: Prosfygika als Antwort auf die Krisen des Kapitalismus

Seit mehr als zehn Jahren verwaltet sich die Nachbarschaft Prosfygika im Zentrum Athens selbst. Im ANF-Interview sprechen Bewohner:innen über die Hintergründe und Ziele des Projekts.

Das Prosfygika ist eine selbstverwaltete Nachbarschaft in Zentrum von Athen. Im ANF-Interview sprechen Vertreter:innen des Projekts über den Entstehungsprozess, die Ideen dahinter sowie über die Herausforderungen, mit welchen sich die Bewohner:innen konfrontiert sehen.

Könnt ihr euch kurz vorstellen? Was macht ihr?

2010 war der Beginn der „Community of squatted Prosfygika“ mit dem Start der Versammlung. Die acht Blöcke, aus denen unser Viertel besteht, befinden sich zwischen dem Polizeipräsidium, zwei Krankenhäusern, dem Fußballstadion von Panathinaikos und dem Hauptgericht. In der Nachbarschaft leben 400 Menschen, in der Community etwa 200 Menschen, darunter 30 Kinder. Die Community ist ein multikulturelles und multiethnisches Mosaik aus verschiedenen unterdrückten Klassen. Hier leben Menschen aus mehr als 15 Nationalitäten zusammen. Unsere Community arbeitet selbstorganisiert und horizontal basierend auf ihren Bedürfnissen. Diese Nachbarschaft ist ein befreiter Boden, aber eingebettet in die lokalen Gegebenheiten. Das bedeutet, dass wir unser Projekt nicht als „Insel der Freiheit" sehen und uns auch keine derartigen Illusionen erlauben. Die Nachbarschaft Prosfygika ist eine praktische Antwort auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, in die wir gezwungen wurden. Wir sind Teil eines sozialen, internationalen und Klassenkampfes. Wir kämpfen gegen die Gentrifizierung; wir sind Teil des Kampfes für Wohnraum, Teil des lokalen Kampfes und der Bewegung in Athen.

Was ist euer historischer Hintergrund? In welcher Tradition seht ihr euch?

Wir sehen uns in der Tradition der revolutionären Bewegung. Unsere Werte sind Freiheit, Solidarität und Gleichheit, und die Hauptpfeiler, auf die wir uns beziehen, sind Konföderalismus und Internationalismus. Wenn wir eine historische ideologische Richtung aufzeigen würden, wären das Anarchismus-Kommunismus und Plattformismus. Wir sehen sie als unsere theoretische und organisatorische Basis, aber wir arbeiten nicht dogmatisch. Wir sehen das eher als ein Werkzeug, haben jedoch ein breiteres politisches Verständnis.

Was sind die Herausforderungen, mit denen ihr als Projekt konfrontiert seid?

Wir sind als Bewegung im Allgemeinen mit staatlicher Repression konfrontiert, aber auch speziell unsere Community wird von den Behörden verfolgt. Wir sehen die Gefahr der Räumung unseres Gebiets im Zusammenhang mit dem allgemeinen Kampf in Griechenland und Athen: im Zusammenhang mit der Polizeibesetzung im Viertel Exarchia, welches ein zentraler Ort für die antiautoritäre Bewegung ist, mit den Räumungen von besetzten Häusern oder den Angriffen auf Universitäten. Eingebettet in diesen Kontext verstehen wir den Gentrifizierungsplan des Staates für unser Viertel. Die „REDEVELOPMENT OF ATHENS S.R.O.", die im Mai 2018 unter SYRIZA gegründet wurde und unter der NEUEN DEMOKRATIE mit K. Bakoyannis als Vorsitzenden unvermindert fortgeführt wird, hat die Ärmel hochgekrempelt und pflügt Gebäude, Territorien, ganze Regionen, ganze Leben für unser „Wohl". Das bedeutet Verdrängung der Menschen, die in dieser Gegend leben, Privatisierungen und die Verteuerung der Lebensbedingungen. Konkret bedeutet das für uns eine ständige Gefahr der Vertreibung durch den Staat.

Ein anderer Teil ist mit uns selbst verbunden, das heißt, wie können wir an unserer eigenen Mentalität arbeiten? Wie können wir die Werte in Frage stellen, die der Staat der Gesellschaft aufzwingt und mit denen wir selbst aufgewachsen sind? Wir versuchen, Individualismus und Patriarchat zu bekämpfen und eine gleichberechtigte und kollektive Alternative zu fördern, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.

Vor welchen großen Herausforderungen steht die Gesellschaft eurer Meinung nach derzeit?

Eine wirtschaftliche und soziale Krise, die eine politische Krise verstärkt, das Aufkommen von Nationalismus und Chauvinismus, die den Weg für Nationalstaaten ebnen, immer totalitärer zu werden. Neoliberalisierung und Individualisierung schaffen eine starke kapitalistische Kultur. NATO- und EU-Politik als große imperialistische Mächte, die versuchen, ihr Territorium zu erweitern. Eine Zunahme und Militarisierung der Polizei und der EU-Grenzen, die Schaffung von FRONTEX als europäische Militärtruppe, um diese mit einem neuen Maß an Gewalt, Tod und Zurückdrängung zu schützen.

Wie reagiert ihr auf die Krise, mit der wir derzeit konfrontiert sind?

Wir organisieren uns stärker, um auf die neue Situation reagieren zu können, das heißt, um auf Veränderungen im griechischen Staat mit einer stärkeren Unterdrückung der Bewegung reagieren zu können. Wir versuchen, autonome Strukturen außerhalb der Mechanismen des Staates aufzubauen, um nicht vom Staat abhängig zu sein, uns ihm aktiv entgegenzustellen und unsere eigene Alternative zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist die Struktur des Kinderhauses. Das Kinderhaus ist eine Selbsterziehungsstruktur und unterstützt die Kinder des Viertels in ihrer Entwicklung und organisiert Aktivitäten mit ihnen. Das Kinderhaus konzentriert sich auf die psychosoziale Entwicklung der Kinder, bietet ihnen Unterstützung bei den täglichen Hausaufgaben, organisiert Ausflüge und kreative Spiele. Durch die Schaffung autonomer Strukturen sind wir in der Lage, unsere eigene Kultur und Werte zu fördern.

Unser konföderaler Ansatz versucht, eine Antwort auf die anhaltende Krise und die Probleme zu geben, mit denen die Bewegung konfrontiert ist. Wir versuchen, spezifische Themen zu finden, bei denen wir eine gemeinsame Basis finden, um mit Kollektiven und Gruppen aus verschiedenen Teilen der Bewegung zusammenzuarbeiten. In diesem Schritt öffnen wir unser Projekt, um verschiedene Communities oder Kämpfe von der lokalen bis zur internationalen Ebene zu verbinden. Konkret schlagen wir vor, mit kollektiver Verantwortung, einem gemeinsamen Plan und einer gemeinsamen Agenda zusammenzuarbeiten.

Könnt ihr uns etwas über die Selbstorganisation in eurem Projekt erzählen?

Unser Projekt basiert auf einem spezifischen Rahmen, der ein kollektives Programm, kollektive Verantwortung und langfristige Pläne beinhaltet. Wir arbeiten mit den Verfahren des Kongresses, was bedeutet, dass wir unsere Arbeit in einer Revisionsversammlung überprüfen. Hier bewerten wir unsere Aufgaben und Arbeiten neu und üben Kritik und Selbstkritik. Unser Entscheidungsorgan ist unsere Generalversammlung, die einmal pro Woche stattfindet und von allen Mitgliedern der Community besucht werden sollte. Zusätzlich zu dieser Versammlung arbeiten wir mit einer allgemeinen Verwaltung als zweite Versammlung, die wöchentlich stattfindet, als ein Organ, das keine Entscheidungsbefugnis hat, sondern dafür verantwortlich ist, das umzusetzen, was in der allgemeinen Versammlung diskutiert und beschlossen wurde.

Wie ist euer Verhältnis und Zugang zur Gesellschaft?

Wir sehen und verstehen uns als Teil der Gesellschaft. Wir sind ein soziales Projekt und es gibt keine Unterscheidung zwischen uns und den anderen, wir sind kein politisches Gremium außerhalb oder über der Gesellschaft. Unsere Kämpfe sind vollständig mit der Gesellschaft verbunden. Wir sind Teil der sozialen Kämpfe und der Klassenkämpfe. Unsere Community ist eine offene Community, und unsere Versammlungen sind offene Verfahren, was bedeutet, dass alle teilnehmen können. Diese Offenheit fördern wir auch in der Bewegung.

Wie ist euer Verhältnis zur kurdischen Freiheitsbewegung? Seht ihr Parallelen in euren Kämpfen?

Kurdische und türkische Revolutionärinnen und Revolutionäre lebten schon vor 2010 in der Nachbarschaft, wir haben seit dieser Zeit Kontakte zu ihnen aufgebaut. Im Jahr 2015 reiste der erste Genosse nach Rojava, um die Revolution zu unterstützen. Bis heute sind sieben Personen aus der Community nach Rojava und Kurdistan gereist, um die Bewegung zu unterstützen. Einer von ihnen, Haukur Hilmarsson, ist bei der Verteidigung von Efrîn 2018 gegen die türkische Invasion gefallen. Einige der anderen Internationalist:innen aus unserer Community wurden schwer verletzt. Die Community ist Teil der Kampagne Riseup4Rojava und arbeitet mit dem lokalen Komele (Kurdisches Gesellschaftszentrum) und anderen türkischen Organisationen zusammen.

Seit 2016, nachdem die Community den Vorschlag machte, revolutionäre Organisationen in der Infrastruktur unseres Viertels unterzubringen, haben sich Komele und türkische revolutionäre Organisationen unserer Community angeschlossen. Jetzt sind PKK, TKP/ML, DKP, DHKP-C, MLKP untergebracht und MKP ist in ihrer unabhängigen Infrastruktur präsent. Natürlich sehen wir Parallelen in unseren Kämpfen, wir sehen die Notwendigkeit, für einen befreiten Boden zu kämpfen und uns den Mechanismen von Staat und Kapital zu widersetzen. Die Revolution in Rojava hat Land befreit und es möglich gemacht, eine Alternative aufzubauen.

Was müssen wir gegen den Krieg in Kurdistan tun?

Wir müssen die kurdische Bewegung unterstützen, in allen vier Teilen Kurdistans, in der Türkei und international. Wir können das kurdische Paradigma ausweiten und einen Schwerpunkt auf die Bildung legen und wir sollten die kurdischen Strukturen in unserer Umgebung unterstützen. Das tun wir auf lokaler Ebene mit unserer Teilnahme an der Kampagne Riseup4Rojava. Mit Riseup4Rojava wollen wir auf den Krieg und die Rolle der EU und der NATO aufmerksam machen, wir wollen nicht zulassen, dass ein Krieg von geringer Intensität ungesehen bleibt. Wir beteiligen uns an Bildungsmaßnahmen (Akademie der demokratischen Moderne). Als Community ermutigen wir die Menschen dazu, nach Rojava zu gehen, an der Revolution teilzunehmen und von ihr zu lernen.

Wenn sich Strukturen des türkischen Staates oder Kapitals in unseren Ländern befinden, können wir sie angreifen.

Was gibt euch Inspiration, Hoffnung und Perspektiven?

Historisch gesehen alle Kämpfe der unterdrückten Klassen und deren Fortführung heute. Zu sehen, dass es so viele Genoss:innen und Menschen gibt, die kämpfen und sich wehren. Unsere eigene Community und das, was wir in den letzten zehn Jahren aufbauen konnten. Aber vor allem der Kampf der Zapatistas und der kurdischen Freiheitsbewegung gibt uns Hoffnung und ein Beispiel, von dem wir lernen und uns inspirieren lassen können. Aber auch andere revolutionäre Bewegungen weltweit, zum Beispiel in Lateinamerika, können eine Inspiration sein.

Wie können Menschen, auch außerhalb Griechenlands, euer Projekt unterstützen?

Interessierte Menschen können in unsere Nachbarschaft kommen, um organische Beziehungen aufzubauen. In unserer Community gibt es Räume, die für eine gewisse Zeit Internationalist:innen aufnehmen, die unser Projekt kennenlernen, den Menschen begegnen, sich in die gemeinsamen Strukturen und das tägliche Programm einbringen und Verantwortung für einen aktiven Widerstand in der Nachbarschaft übernehmen wollen. Darüber hinaus laden wir Menschen ein, langfristig zu bleiben, Verantwortung in unserer Community zu übernehmen und Teil von ihr zu werden. Eine zusätzliche Unterstützung für den Verteidigungsplan kann durch technisches Wissen und Arbeit für Verbarrikadierung, Kampfmaterial, Alarmsystem, aber auch durch Unterstützung bei unserer täglichen Arbeit gegeben werden. Die Blöcke/Häuser in unserer Nachbarschaft sind etwa 100 Jahre alt, wir reparieren und warten sie selbst. Wir brauchen Wissen und Fähigkeiten, um uns bei dieser praktischen Arbeit zu unterstützen, zum Beispiel Bauarbeiten, Klempnerarbeiten, aber auch finanzielle Unterstützung wird benötigt. Internationalismus ist unsere Basis, in diesem Rahmen sehen wir Beziehungen zu anderen Gruppen und Individuen außerhalb Griechenlands als wichtigen Teil, um den Kampf zu verbessern, Verbindungen und gemeinsame Projekte zu schaffen und uns gegenseitig gegen staatliche Unterdrückung zu unterstützen.

Im Falle eines staatlichen Angriffs auf unsere Nachbarschaft begrüßen wir Solidaritätserklärungen und -aktionen. Wir betrachten die Bedeutung jedes Banners, jeder Parole und jeder Ankündigung als Beitrag zur politischen Verteidigung von Prosfygika. In einer Logik, die darauf abzielt, dem Staatsapparat und dem kapitalistischen Reichtum den größtmöglichen Preis in Form von Zerstörung, Gewalt und sozialer Bloßstellung aufzuerlegen, sind sowohl aggressive als auch aktivistische Solidaritätsaktionen willkommen. Generell hilft jeder Kampf gegen Kapitalismus, Staat und Ausbeutung unserer Community, also organisiert euch, besetzt Häuser, kämpft und baut Alternativen in eurem Umfeld auf.

Kontakt: https://sykaprosquat.noblogs.org/ und Twitter: @Prosfygika