Das Prosfygika ist eine selbstverwaltete Nachbarschaft im Zentrum der griechischen Hauptstadt Athen. Hier fand am Sonntag eine gut besuchte Veranstaltung mit der Hamburger Ethnologin und Autorin Anja Flach zur Frauenrevolution in Rojava statt. Bevor Flach die Gäste vorab zur aktuellen Situation in allen Teilen Kurdistans informierte, stellte sich zunächst die griechische Plattform der Kampagne „RiseUp4Rojava“ vor und machte ihre Arbeiten bekannt. Anschließend startete Flach mit der Präsentation des Kurzfilmes „Azadî çi ye?“ ihren Vortrag. Nach den eindrucksvollen Stimmen der Frauen aus Rojava folgte eine kurze Erläuterung über die momentane politische Lage.
„Die Strukturen der kurdischen Bewegung in Bakur (Norden) stehen nach wie vor unter einer groß angelegten Repression mit zehntausenden gefangenen Aktivist:innen und einer Kriminalisierungskampagne gegen die Oppositionspartei HDP. Die Umstände des Widerstands in Rojhilat (Osten) sind nach wie vor unter dem iranischen Gewaltapparat erdrückend. Dennoch beteiligen sich auch dort tausende Menschen am Befreiungskampf. Die Lage in den Medya-Verteidigungsgebieten in Başûr (Süden) spitzt sich seit April des Jahres beträchtlich zu. Das türkische Militär setzt chemische Waffen in der Region ein, wodurch 38 Kämpferinnen und Kämpfer ihr Leben verloren“, erklärte Flach zu Beginn.
Ziel der Angriffe des türkischen Militärs seien vor allem die Strukturen der Frauenbefreiungsbewegung – in allen vier Teilen Kurdistans. Auch in Rojava, dessen Perspektive der Aufbau einer staatenlosen und demokratischen Gesellschaft sei, so Flach. Diese Perspektive habe sich in den letzten Jahren in einigen Strukturen in Rojava realisiert. Das sei jedoch nur aufgrund der über 40-jährigen Existenz der kurdischen Bewegung als Partei und Guerillastruktur möglich gewesen. „Zahlreiche Genoss:innen haben ihr Leben in den Bergen hinter sich gelassen, um ihr Wissen und ihre Erfahrung in den Aufbau von Rojava zu investieren.“ Nach der Analyse von Flach liegt die Grundlage des Genozids am kurdischen Volk in der Ziehung der Nationalgrenzen durch die britischen und französischen Besatzungstruppen 1923.
Einblick in die existierenden Strukturen der Frauenrevolution
Im Anschluss lieferte Flach einen kurzen Einblick in die existierenden Strukturen der Frauenrevolution in Rojava: „Seit 2019 besteht in einigen Gebieten eine autonome Selbstverwaltung mit dem Grundprinzip der Doppelspitze, womit in jeder Struktur eine Frau und ein Mann mit diversen kulturellen Hintergründen als Vertretung stehen. Nicht nur die Selbstverteidigungseinheiten der YPG und YPJ sorgen für Sicherheit; jede Kommune bestehend aus circa 60 Häusern schützt sich mit der kommunalen Selbstverteidigungseinheit HPC. Das Wissen über den Umgang mit der Waffe wird durch Bildungseinheiten der YPJ/HPC an alle Frauen in der Gesellschaft weitergetragen.
Die Selbstverteidigung der Frau findet auch in den Mala Jin statt, Frauenhäuser, welche in jeder Stadt aufgebaut wurden, um Anlaufstelle für Frauen mit diversen Problemen und Anliegen zu sein – häusliche Gewalt, Sorgerechtsstreitigkeiten, Selbstbestimmungskonflikte in Ehe und Familie. Ein Ort der Begegnung, Bildung und Konfliktlösung also. Jinwar als Frauendorf besteht weiterhin in der Perspektive, eine Frauenstadt zu werden. Mit dem Anspruch auf wirtschaftliche Autonomie werden Lebensmittel angebaut, mit regionalen Materialien Häuser gebaut und Bildung für interne und externe Genossinnen angeboten. Der Frauenrat dient als übergeordnete Organisationsstruktur und steht Frauen zur Partizipation offen, wobei auch hier der Anspruch der multikulturellen Zusammensetzung des Rates besteht. Um nicht nur die Frauen in Rojava zu begeistern, sondern auch international die Frauenstimmen zu erheben, wurde JinTV geschaffen. Mit Sitz in Başûr, Rojava und Europa wird momentan zwölf Stunden täglich gestreamt. Das Ziel ist, die Grenzen zu überschreiten und perspektivisch auch auf Englisch zu senden.
Internationalismus war bereits in den 90er Jahren eine Anliegen der kurdischen Bewegung, woraufhin Gruppen aus unterschiedlichen Ländern die Berge Kurdistans besuchten, um in einen Austausch zu treten. Heute wie damals ist es ein Anliegen der kurdischen Bewegung, die internationalen Kräfte zusammenzuführen. Es wird dazu aufgerufen, strategische Netzwerke zu bilden, Kooperativen aufzubauen, Akademien zu gründen und die Hoffnung, welche in der Frauenrevolution liegt in die Welt zu tragen.“
Geschichte von Minawir Xelid
Flach erzählte abschließend die Geschichte von Minawir Xelid vom Dachverband der Frauenbewegung in Nord- und Ostsyrien, Kongreya Star, welche beispielhaft für die Geschichte vieler Frauen der kurdischen Bewegung stehe:
„1990 kamen PKK-Mitglieder nach Rojava. Sie zogen von Haus zu Haus und besuchten die Familien in unserer Gegend, so kamen sie auch in mein Haus. Sie gaben mir das Gefühl, dass es einen neuen Weg geben kann, insbesondere einen neuen Weg für Frauen. Wenn ich die Freiheit der Frauen in der PKK nicht hätte sehen können, wäre ich kein Teil davon geworden. Frauen wurden wertgeschätzt. Wir haben unsere eigenen Strukturen aufgebaut. Ich habe verstanden, dass wenn wir nicht für uns selbst aufstehen werden, wer wird dann für uns aufstehen? Seit 1992 bin ich ein Mitglied der PKK, ich habe mich selbst und viele andere Frauen wachsen sehen.“
Wir müssen zusammenkommen, insbesondere wir Frauen, voneinander lernen und gemeinsam kämpfen, mit diesen Worten schloss Anja Flach ihren Vortrag ab. In den nächsten Tagen wird sie an einer Reise von Lavrio nach Neapel gegen die Isolation von Abdullah Öcalan teilnehmen.
„Prosfygika“ bedeutet übersetzt Flüchtlinge. Der Komplex besteht aus 228 Wohnungen und wurde in den frühen 1930er Jahren errichtet, um einen kleinen Teil der mehr als 1,2 Million griechisch-orthodoxen Bürger:innen aus Kleinasien zu beherbergen, die nach dem Krieg von 1919 bis 1922 zwangsumgesiedelt wurden. Anfang der Nullerjahre wollte der griechische Staat alle Wohnungen aufkaufen, scheiterte allerdings an einer erfolgreichen Klage von 51 Bewohner:innen, die ihr Zuhause nicht aufgeben wollten. Anstelle des geplanten Abrisses folgte die Besetzung aller übrigen Wohnungen: durch Geflüchtete, Obdachlose, Arme. Die früheren Bewohner:innen, die Besetzer:innen und Menschen auf der Flucht leben heute alle zusammen in dem Komplex und halten das Projekt Prosfygika am Leben. Anja Flach wies bei ihrem Vortrag auf große Ähnlichkeiten zwischen der Selbstorganisierung in Rojava und den Selbstverwaltungsstrukturen in Prosfygika hin: Brot wird kollektiv gebacken, es gibt einen selbstorganisierten Kindergarten, Logistik, eine Kleiderkammer, einen wöchentlich tagenden Rat. Auch gibt es eine kurdische Kommune und linke Strukturen aus der Türkei. Entsprechend bunt war das Publikum der Veranstaltung: Internationalist:innen aus Schweden, Spanien, den USA und zahlreichen anderen Orten, sowie Menschen aus dem Squat mit Wurzeln in den verschiedensten Ländern.