Zwölf Jahre Revolution in Rojava

Die zwölfjährige Geschichte der Revolution in Rojava zeugt von Krieg und Widerstand, von Zerstörung und Wiederaufbau, aber vor allem von der Umsetzung eines alternativen, Gesellschaftssystems inmitten einer Krisenregion.

Ein Rückblick

Die Revolution in Rojava begann in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012, als die Bevölkerung von Kobanê gemeinsam mit den Volksverteidigungseinheiten das syrische Regime aus der Stadt vertrieben und die Kontrolle übernahmen. Dies war der Höhepunkt einer langen Geschichte des Widerstands. Viele sehen jedoch den Aufstand von Qamişlo im Jahr 2004 als den eigentlichen Ausgangspunkt. Nach einem Fußballspiel eskalierten die Spannungen und mündeten in landesweite Aufstände, die vom syrischen Regime blutig niedergeschlagen wurden. Diese Ereignisse verstärkten die Bemühungen der kurdischen Parteien, die Gesellschaft zu organisieren und klandestine Strukturen aufzubauen. Die kurdische Bevölkerung war nicht mehr bereit, die jahrzehntelange Unterdrückungspolitik des syrischen Baath-Regimes hinzunehmen.

Die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) spielte eine Schlüsselrolle in diesen Entwicklungen. Gegründet im Jahr 2003, orientierte sie sich an den Ideen Abdullah Öcalans und seinem Konzept des demokratischen Konföderalismus. Ein weiterer wichtiger Akteur war der kurdische Frauendachverband Yekîtiya Star, der sich ebenfalls im Untergrund organisierte und später eine tragende Säule der Revolution wurde.

Als der Arabische Frühling Syrien im März 2011 erreichte, traten die bisher geheimen Rätestrukturen in Rojava öffentlich auf. Die Gründung der Selbstverteidigungseinheiten des Volkes (YXG) folgte bald darauf. Während Syrien in einen Bürgerkrieg versank, blieben die kurdischen Gebiete vorerst vergleichsweise ruhig. Die kurdische Bevölkerung organisierte sich weiter, unterstützt von der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), gegründet von Mitgliedern der PYD.

Der Aufbau autonomer Selbstverwaltungsstrukturen

Das Baath-Regime beobachtete die Entwicklungen in Rojava mit Besorgnis, jedoch wurde der Konflikt im Rest des Landes vorerst priorisiert. Um die kurdische Bevölkerung zu besänftigen, versprach Bashar al-Assad, einem Teil der staatenlosen Kurd:innen die syrische Staatsbürgerschaft zu geben.

Der Rückzug des Regimes ermöglichte es ab Mitte 2012 den kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen, die Kontrolle über drei geographisch voneinander getrennte »Inseln« zu ­erlangen, bekannt als Kantone Cizîrê, Kobanê und Efrîn. Obwohl diese Gebiete nicht miteinander verbunden waren, gelang es ­TEV-DEM, in allen drei Kantonen Selbstverwaltungsstruk­turen auf­zubauen und eine koordinierte Basis zu schaffen.

Durch die Selbstorganisierung unter TEV-DEM konnte die Gesellschaft die lebenswichtige Infrastruktur aufrechterhalten und weiterentwickeln. Tägliche Stromversorgung und die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung waren einige der Errungenschaften dieser Bewegung. Doch das Herzstück der Revolution bildeten die Rätestrukturen in den Stadtteilen und Dörfern. TEV-DEM forcierte den Aufbau dieser Strukturen und verfolgte von Anfang an das Ziel, alle gesellschaftlichen Komponenten in die Selbstverwaltung einzubinden.

Die Rolle des Kurdischen Nationalrats und der »syrischen Opposition« sowie die Politik des »Dritten Weges«

Neben der PYD und TEV-DEM sind zahlreiche weitere kurdische Parteien in Rojava aktiv, darunter etwa 20, die auf die Demokratische Partei Kurdistans in Syrien zurückgehen. Einige dieser Parteien schlossen sich 2011 zum Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê (ENKS, Kurdischen Nationalrat) zusammen, hatten jedoch nicht den gleichen Einfluss wie PYD und TEV-DEM. Der ENKS wurde international beachtet, erhielt aber wenig Unterstützung in der Bevölkerung. In Rojava wurde der Versuch unternommen, die kurdischen Akteur:innen zusammenbringen, auch um den Einfluss externer Kräfte auf die Revolution zu unterbinden. Die Zusammenarbeit zwischen TEV-DEM und ENKS war allerdings hauptsächlich aufgrund interner Differenzen kurzlebig. Die PYD lehnte Vorschläge des ENKS ab, Rojava ähnlich wie Südkurdistan in zwei Einflusssphären aufzuteilen. Ein Teil der ENKS-nahen Parteien spaltete sich später ab und entschied sich, Teil der Selbstverwaltung zu werden. Die restlichen Teile des ENKS stellen den Anspruch auf Inklusivität aller ethnischer Gemeinschaften, insbesondere der Araber:innen, durch die Selbstverwaltung in Frage, während die Selbstverwaltung eine Einbindung dieser Bevölkerung anstrebt.

Ebenso komplex gestalteten sich die Beziehungen zwischen der Selbstverwaltung in Rojava und der »syrischen Opposition«. Während anfänglich Aktivist:innen in den »Lokalen Koordinationskomitees« die treibende Kraft der Aufstände im restlichen Syrien waren, übernahmen bald darauf politische Strukturen hauptsächlich aus dem Exil die Führung im Kampf gegen das Baath-Regime. Der Syrische Nationalrat, der in der Türkei tagte und Unterstützung von westlichen Ländern und den Golfstaaten erhielt, war einer dieser politischen Zusammenschlüsse. In Syrien selbst trat die Freie Syrische Armee (FSA) als bewaffnete Struktur auf, die jedoch keiner einheitlichen Kommandostruktur unterlag. Die sogenannte »syrische Opposition« verfolgte ähnlich wie das Baath-Regime eine feindliche Politik gegenüber der Selbstverwaltung, vor allem aufgrund des Einflusses der Türkei auf den Syrischen Nationalrat, der die PYD als Terrororganisation betrachtet.

Die Türkei versuchte zunächst, Einfluss auf Rojava zu nehmen, lud sogar den Ko-Vorsitzenden der PYD, Salih Muslim, zu Gesprächen ein. Doch die Bemühungen von Muslim, die Türkei von einer neutralen Haltung gegenüber der Selbstverwaltung in Rojava zu überzeugen, scheiterten. Im Gegensatz dazu unterhielt die Türkei wohlwollende Beziehungen zu den kurdischen Parteien des ENKS, da sie hoffte, dass diese gegenüber der PYD an Einfluss in Rojava gewinnen würden.

Die Selbstverwaltung verfolgte eine Politik des »Dritten Weges«, um nicht in den Bürgerkrieg zwischen dem Baath-Regime und der »syrischen Opposition« hineingezogen zu werden. Im Fokus standen der Aufbau und Schutz des eigenen Gesellschaftssystems. Diese Strategie wurde jedoch nach dem Angriff des IS auf Kobanê im Herbst 2014 vor eine neue Herausforderung gestellt. Die Politik des »Dritten Weges« machte die Akteur:innen Rojavas weniger anfällig für externe Einflüsse, führte aber auch dazu, dass sie in den Anfangsjahren der Revolution im Gegensatz zur »syrischen Opposition« keine internationale Unterstützung erhielten.

Der islamistische Terror erreicht Rojava

Im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges gewannen islamistische Gruppierungen innerhalb der Opposition und insbesondere in ihren bewaffneten Strukturen zunehmend an Einfluss. Die Muslimbrüder im Syrischen Nationalrat sowie verschiedene islamistische Gruppen in der Freien Syrischen Armee dominierten bald das Geschehen. Die islamistische Al-Nusra Front, der syrische Ableger von Al-Qaida, trat ab 2012 offen als eigenständige Kraft auf, gefolgt vom Aufkommen des Islamischen Staates (IS) im Jahr 2013.

Die ersten Angriffe dschihadistischer Gruppen auf die Gebiete der Selbstverwaltung in Rojava ereigneten sich bereits Ende 2012, darunter die Attacke der Al-Nusra-Front auf die Stadt Serêkaniyê. Der erfolgreiche Widerstand der Kräfte von YPG und YPJ gegen diese Gruppierungen stärkte die Sympathien für die Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten. Die Angriffe des IS auf Kobanê und der heldenhafte Widerstand der kurdischen Verteidigungseinheiten brachten die Revolution von Rojava erstmals umfassend in die westlichen Medien.

Der Kampf um Kobanê als Schlüsselmoment

Das öffentliche Interesse und weltweite Solidaritätsaktionen für Kobanê führten dazu, dass die internationale Koalition im Kampf gegen den IS den Verteidiger:innen der Stadt zur Seite sprang. Die internationale Koalition unter der Führung der USA sah sich aufgrund des öffentlichen Drucks letztlich gezwungen, IS-Stellungen in Nordsyrien anzugreifen und die Kräfte der YPG und YPJ zu unterstützen.

Nach dem Sieg über den IS in Kobanê setzte die internationale Koalition ihre Zusammenarbeit mit den kurdischen Kräften fort, um weitere Städte vom IS-Kalifat zu befreien. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wurden gegründet, unter deren Dach neben den Einheiten der YPG und YPJ auch verschiedene arabische bewaffnete Strukturen zusammenkamen. Die QSD befreite Städte wie Minbic und Raqqa, was schließlich im März 2019 zur vollständigen Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS in Syrien führte.

Die Türkei greift aktiv ins Kriegsgeschehen ein

Die Türkei beobachtete mit Sorge die wachsende ­Legitimation und das Territorium der politischen Akteur:innen in Nord- und Ostsyrien. Trotz des Kampfes gegen den IS ­verfolgte Ankara weiterhin eine feindliche Haltung gegenüber der Selbst­verwaltung und griff Ende 2016 selbst militärisch in den ­Syrienkonflikt ein. Die Operation »Schutzschild Euphrat« sollte verhindern, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) weitere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen.

Im Januar 2018 intensivierte die Türkei ihre Angriffe mit der »Operation Olivenzweig«, die sich direkt gegen die Selbstverwaltung in Efrîn richtete. Die Offensive führte zur Vertreibung von YPG- und YPJ-Einheiten sowie zu Massenvertreibungen der Bevölkerung und gezielter Ansiedlung von arabischen Geflüchteten in der Stadt. Islamistische Fraktionen, auch ehemalige IS-Kämpfer, beteiligten sich an der Besetzung von Efrîn.

Eine weitere Militäroffensive, die »Operation Friedensquelle«, folgte im Oktober 2019. Die Türkei besetzte Gebiete zwischen den Städten Serêkaniyê und Girê Spî in Nordsyrien und zwang mehr als 200.000 Menschen zur Flucht, während rund 450 Zivilist:innen ihr Leben verloren. Diese Besatzungen bedrohen weiterhin die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und gefährden die Aufbaubemühungen des demokratischen Konföderalismus in der Region bis heute.

Andauernde Bedrohung und Zerstörung der Infrastruktur

Seit Oktober vergangenen Jahres hat der türkische Staat zudem in mehreren Angriffswellen weite Teile der zivilen Infrastruktur Nord- und Ostsyriens zerstört. Den Menschen in der Region soll die Lebensgrundlage entzogen werden. Die internationale Staatengemeinschaft schweigt hingegen zu diesen Kriegsverbrechen.

Die Angriffe im Januar 2024 führten dazu, dass rund zwei Millionen Menschen keine Elektrizität hatten. Die Zerstörung der Energieversorgung beeinträchtigte auch die Trinkwasserversorgung. Die Treibstoffknappheit stellt zudem ein erhebliches Risiko für die humanitäre Hilfe dar und beeinträchtigt die Mobilität des Personals, den Transport lebenswichtiger Güter sowie die Funktionsfähigkeit lebensrettender Gesundheitseinrichtun­gen und medizinischer Geräte. Im Frühjahr haben zudem türkeitreue Milizen damit begonnen, gezielt landwirtschaftliche Flächen zu bombardieren. Die Angriffe zielen darauf ab, die Selbstversorgung der Bevölkerung mit Weizen und anderem Getreide zu unterbrechen. Während der türkische Staat einerseits mit weiteren Militäroffensiven in der Region droht, setzt er auf eine Zermürbungsstrategie, mit der die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstört werden sollen, um sie in die Flucht zu treiben.

Allen Angriffen zum Trotz: Der Aufbau der Selbstverwaltung schreitet voran

Trotz der bestehenden militärischen Bedrohung setzt die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien den Aufbau gesellschaftlicher Strukturen fort. Nach der Etablierung der Selbstverwaltungen in den Kantonen Cizîrê, Kobanê und Efrîn wurde ab November 2013 eine Übergangsregierung geschaffen, die die Koordination zwischen den drei Kantonen übernahm. Dies mündete in die Ausrufung der »Autonomen Administration von Rojava« und die Verabschiedung des ersten Gesellschaftsvertrags.

Nach der Ausdehnung des Kampfes gegen den IS auf mehrheitlich arabische Gebiete wurde der Demokratische Syrienrat (MSD) gegründet, eine multiethnische und multireligiöse Struktur, die eine demokratische Nachkriegsordnung für Syrien anstrebt. Die Namensänderung zur »Demokratischen Föderation von Nord- und Ostsyrien« im Dezember 2016 betonte die multiethnische Natur der Selbstverwaltung.

Mit der Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS wurden die Selbstverwaltungsstrukturen erneut reformiert. Die »Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien« wurde ausgerufen und die Selbstverwaltungsgebiete in sieben Regionen unterteilt. Die Umstrukturierungsarbeiten in Nord- und Ostsyrien dauerten auch in der Folgezeit an. Es ging nun darum, die Rätestrukturen in den befreiten Gebieten aufzubauen und das Gesellschaftsmodell im Austausch mit den Teilen der Bevölkerung, die vom IS befreit worden waren, zu vertiefen. Dieser Prozess dauerte bis zum Dezember 2023, als schließlich die bislang letzte Version des Gesellschaftsvertrags ratifiziert wurde.

»Er [der Gesellschaftsvertrag] wurde mit der Zustimmung aller Segmente der Gesellschaft und unter Beteiligung der Vertreter:innen aller Institutionen, Organisationen, Religionen, Konfessionen und Völker umgesetzt. Es war inakzeptabel, dass nur eine nationale Identität herrscht und andere Nationen in einer Minderheitenposition bleiben. Mit dem Gesellschaftsvertrag wurden die Rechte der verschiedenen ethnischen, religiösen und konfessionellen Identitäten gesichert.« (Stêr Bişar Qasim, Mitglied des Frauenrates von Nord- und Ostsyrien) Stêr Bişar Qasim war Mitglied der Vorbereitungskommission für den Gesellschaftsvertrag. Die intensive Aushandlungsphase des Gesellschaftsvertrags führte unter anderem zu einer Reform der regionalen Organisierung in Form von Kantonen. Die Kantone Cizîrê, Firat, Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor, Minbic und Efrîn-Şehba sind das Ergebnis.

Der Gesellschaftsvertrag soll zudem eine Blaupause für ein zukünftiges, dezentrales und demokratisches Gesamtsyrien darstellen, wie Qasim betont: »Wir schaffen ein Modell, das weit von einem autokratischen System entfernt ist. Die Ergebnisse des zentralistischen Systems in Syrien liegen uns offen vor Augen. Die Rechte der verschiedenen ethnischen, religiösen und konfessionellen Identitäten wurden verletzt. Aus diesem Grund haben wir sowohl in unseren Diskussionen als auch im vorliegenden Gesellschaftsvertrag die Demokratische Syrische Republik als unser Ziel benannt.«

Müslüm Örtülü ist Mitarbeiter von Civaka Azad (Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit). Der Artikel erschien zuerst im Kurdistan Report 234.