Rohilat Efrîn aus dem Kommando der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) fordert, dass die Türkei angesichts ihrer Kriegsverbrechen in Kurdistan vor ein internationales Gericht gestellt wird. Im Interview der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) äußerte sich die Kommandantin zur jüngsten Angriffswelle der türkischen Armee auf die zivile Infrastruktur in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien. Der Anschlag der PKK-Guerilla auf einen staatlichen Luft- und Raumfahrtkonzern in Ankara Mitte vergangener Woche, mit dem die Regierung die Angriffswelle rechtfertigt, sei nur ein Vorwand gewesen.
Die türkische Armee nimmt immer wieder Städte in Nord- und Ostsyrien ins Visier. Als Vorwand dienen Aktionen der Guerilla. Doch was ist der eigentliche Grund dieser Angriffe?
Die Türkei versucht das kurdische Volk durch die multidimensionale Fortsetzung des Krieges zu vernichten. Sie ist aber an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr in der Lage ist, die gegenwärtige Belastung zu tragen. Die Türkei befindet sich sowohl national als auch auf der internationalen Ebene in einer politischen und wirtschaftlichen Krise. Sie befürchtet, dass das kurdische Volk in der neuen Weltordnung und im Nahen Osten eine wichtige Stellung beziehen könnte. Die Türkei sieht ihrem eigenen Untergang entgegen, erkennt aber auch, dass das kurdische Volk immer mehr an Status gewinnt. Das kurdische Volk verteidigt seine Errungenschaften aus eigener Kraft und bringt dafür Opfer.
Der Grund für die Angriffe der Türkei auf unsere Regionen ist nicht die Aktion in Ankara, das ist allen bewusst. Es geht um die politischen, militärischen und sozialen Errungenschaften hier. Es ist allgemein bekannt, dass es noch nie einen Angriff von Rojava aus auf die Türkei gegeben hat. Man sucht nach Vorwänden, um die Errungenschaften hier zu zerstören. Wir müssen die Situation richtig bewerten. Die Angriffe haben seit der Besetzung von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî nicht aufgehört. Der türkische Staat verfolgt eine expansionistische Haltung. Wenn er die Region nicht besetzen kann, dann belagert er sie und greift sie immer wieder von neuem an. Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, selbst auf Kinder, kennen keine Grenzen. Es werden Einrichtungen wie Weizensilos oder Wasser- und Elektrizitätswerke und damit die Grundversorgung der Bevölkerung angegriffen. Man will nicht, dass unser Volk hier in seinem eigenen Land zur Ruhe kommt. Es gibt keine zivile Siedlung, die nicht von den Angriffen betroffen wäre. Es geht um die totale Vertreibung der Menschen hier.
Sie haben von einer Absicht der Vertreibung hinter den Angriffen gesprochen…
Eigentlich handelt es sich dabei um eine Methode des Spezialkriegs. Man will, dass unser Volk aus der Region flieht. In diesem Sinne wurde sowohl materieller als auch psychischer Schaden angerichtet. Der türkische Staat versucht den Menschen Angst zu machen und ihnen die Luft zum Atmen zu nehmen. Wir haben daher als Verteidigungskräfte auf die Angriffe reagiert und wir werden diese Angriffe auch künftig nicht unbeantwortet lassen. In dieser Hinsicht haben wir Vertrauen in uns und unser Volk. Wir werden unsere Errungenschaften schützen. Die Türkei verdreht mit ihren Spezialkriegsmethoden die Realität. Aber mit diesen Gewaltakten hat sie erneut ihre Maske fallengelassen.
Wie ist die Haltung die internationalen Anti-IS-Koalition gegenüber diesen Angriffen?
Der türkische Staat begeht jeden Tag in Rojava Kriegsverbrechen. Internationale Institutionen und Organisationen müssen ihre Stimme gegen die Angriffe erheben. Denn das Schweigen ermutigt die Türkei. Es ist an der Zeit, dass die Türkei vor einem internationalen Gericht für ihre Kriegsverbrechen in Kurdistan angeklagt wird. Sie muss jetzt bestraft werden. Betrachtet man allein Nord- und Ostsyrien, so ist in allen besetzten Gebieten ein systematischer demografischer Wandel festzustellen. Der türkische Staat betreibt in seiner Besatzungszone eine Politik der Massaker, der Vernichtung, der Zerstörung von Identität und Kultur. Die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien sind durch nichts zu rechtfertigen. Wir halten auch die Erklärung der Koalition, in der von „Selbstverteidigung der Türkei“ die Rede ist, für absolut ungerechtfertigt. Legitime Verteidigung gegen was? Die Aktion in Ankara hat nichts mit Nord- und Ostsyrien zu tun.
Nach den Angriffen sprach die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien von ihrem Recht auf Selbstverteidigung und warnte die Angreifer...
Der 3. Weltkrieg dauert an und wird weitergehen. Wir werden uns gegen die gegenwärtigen und zukünftigen Angriffe verteidigen, wir werden den Kampf intensivieren. Wir werden die Verteidigungseinheiten vergrößern und unser Land und die Errungenschaften der Revolution gemeinsam mit unserem Volk verteidigen. Unser Volk wurde in den vergangenen acht bis neun Jahren immer wieder angegriffen. Efrîn, Gri Spî und Serêkaniyê wurden besetzt. Die Angriffe des türkischen Staates richten sich im Wesentlichen gegen die Errungenschaften der Revolution. Der türkische Staat versucht die Philosophie, die Kultur und den Willen hinter der Revolution zu zerstören. Dagegen werden wir als Verteidigungskräfte natürlich unsere Führungsrolle einnehmen und die Errungenschaften und unser Land verteidigen. Hätten wir bis heute keine Vorbereitungen getroffen oder gäbe es keine Volksverteidigung, wären unsere Errungenschaften bereits in kurzer Zeit zerstört worden. Kein Angriff kann uns einschüchtern. Kein Angriff kann uns von unserem Land vertreiben. Wir werden zum richtigen Zeitpunkt die entsprechenden Antworten geben. Die Vorbereitungen dafür werden in jeder Hinsicht fortgesetzt.
Während die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien andauern, wird in der Türkei mal wieder eine Diskussion um „inneren Frieden“ lanciert. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Wir haben in den Medien von entsprechenden Erklärungen und Diskussionen gehört. Es ist noch zu früh, sie zu interpretieren und zu kritisieren. Die Kurd:innen kämpfen seit Jahren unter großen Opfern für ihre Freiheit. Natürlich sind es in erster Linie die Ideen und die Philosophie von Rêber Apo (Abdullah Öcalan), die diesen Kampf tragen und verteidigen. Rêber Apo hat die Revolution mit seinen neuen Paradigmen und Ideen angeführt. Daher werden unser Volk und alle für Demokratie und Freiheit eintretende Menschen sich nicht der Verantwortung entziehen. Wenn Frieden und Demokratie auf gesetzlicher Grundlage verwirklicht werden, sind diese Schritte natürlich für alle Völker wertvoll.
Wenn Schritte für den Frieden getan werden, kann in der ganzen Region Frieden einziehen. Der Iran, die Türkei, der Irak und Syrien, sie alle befinden sich in einer Krise und Sackgasse. Frieden wird für alle zur Verbesserung der Lage führen. Solche Schritte werden auch Länder in der ganzen Welt dazu ermutigen, ihre Probleme zu diskutieren. Das ist es, was Syrien retten wird. Demokratische Gesetze werden Syrien retten. Die Bildung eines demokratischen Syriens wird dadurch möglich sein.
Die Angriffe auf unser Volk wiegen schwer. Aber wir bleiben hartnäckig und stehen dazu, dass wir unser Volk und unsere Errungenschaften mit unseren Kräften ungeachtet der Angriffe auf unsere Region und ganz Kurdistan verteidigen können. Wir werden uns weiterhin verteidigen, koste es, was es wolle. Weder der Spezialkrieg noch die Angriffe schrecken uns ab. Wir haben in Nord- und Ostsyrien große Opfer gebracht und dank dieser Opfer steht heute unser Volk aufrecht. Diese Opfer haben dem türkischen Staat Angst gemacht. Wir hoffen, dass unsere Opfer und Errungenschaften als Grundlage für den Frieden und eine Lösung dienen werden.