Strafanzeige gegen Erdoğan wegen Kriegsverbrechen in Rojava

Wegen Kriegsverbrechen in Nord- und Ostsyrien haben zwei deutsche Organisationen und das Kobanê Medical Center in Rojava den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Karlsruhe angezeigt.

Ahndung nach Weltrechtsprinzip gefordert

Der in Köln ansässige Verein für Demokratie und internationales Recht e.V. (MAF-DAD) und das Netzwerk Kurdischer Akademiker:innen e.V. (KURD-AKAD) haben zusammen mit dem Kobanê Medical Center in Rojava Anzeige gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie weitere Offizielle aus der Türkei erstattet. Sie werfen ihnen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien vor, hieß es am Freitag auf einer Pressekonferenz in Berlin. Die Anzeige wird demnach von der Rechtsanwältin Heike Geisweid und dem Juristen Mahmut Şakar im Laufe des Tages beim deutschen Generalbundesanwalt in Karlsruhe eingereicht. Sie fordern den höchsten Ankläger Deutschlands dazu auf, die Verantwortlichen nach dem Weltrechtsprinzip zu verfolgen.

Vernichtende Angriffe auf medizinische Infrastruktur

Hintergrund der Strafanzeige, die neben Erdoğan auch dessen Außenminister Hakan Fidan und den Chef des Nachrichtendienstes MIT, Ibrahim Kalın, betrifft, sind die seit 2016 verübten systematischen Angriffe der Türkei gegen Gebiete der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES), erklärte die Bochumer Rechtsanwältin Heike Geisweid, die auch Ko-Vorsitzende von MAF-DAD ist. In der Anzeige, die ANF vorliegt, heißt es, diese Angriffe zielten nicht nur auf die Zivilbevölkerung ab, sondern auch auf kritische Infrastrukturen, darunter besonders geschützte medizinische Einrichtungen. Vor allem in der Eskalationsphase zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 habe der gezielte Beschuss einen neuen Höhepunkt erreicht, als unter anderem das Kobanê Medical Center, ein Diabeteszentrum, eine Notfallambulanz und ein Kinderimpfzentrum in der AANES von türkischen Bombern zerstört wurden.

Die Juristin Heike Geisweid, die Ärztin Dersim Dagdeviren von KURD-AKAD und die AANES-Außenbeauftragte Ilham Ehmed erläuterten bei der Pressekonferenz die Handlungen der Türkei, die Tatbestände der Kriegsverbrechen sowie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllen © Hakan Türkmen


Fehlende unmittelbare Bedrohung für die Türkei

„Die türkische Regierung rechtfertigte diese Angriffe mit dem Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta und berief sich auf einen Selbstmordanschlag auf das türkische Innenministerium in Ankara am 1. Oktober 2023, der der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zugeschrieben wurde. Allerdings gibt es keine Anzeichen dafür, dass Angriffe der PKK jemals aus Syrien heraus auf die Türkei verübt wurden“, wurde auf der Pressekonferenz in Berlin erläutert. Darüber hinaus fehlten seitens der Türkei Beweise für eine direkte und unmittelbare Bedrohung durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD, auch SDF) und die AANES, die von Ankara als „PKK-Ableger“ eingestuft werden. Vielmehr deute die aktuelle politische und militärische Lage darauf hin, dass weder die QSD noch die AANES eine akute Bedrohung für die Sicherheit der Türkei darstellen. Die QSD seien vorrangig darauf ausgerichtet, Stabilität in der Region zu gewährleisten und den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) zu bekämpfen, indem sie etwa 10.000 IS-Häftlinge in Gewahrsam halten und strafrechtlich zur Verantwortung ziehen.

Am 25. Dezember 2023 bombardierten türkische Drohnen in Qamişlo ein Dialyse-Zentrum sowie eine Abfüllanlage für medizinischen Sauerstoff. Beide Einrichtungen liegen auf dem Gelände des Covid-19-Krankenhauses, eine geriet in Brand.


Angriffe kollektive Bestrafung der überwiegend kurdischen Zivilbevölkerung

„Angesichts dieser fehlenden unmittelbaren Bedrohung reicht das Selbstverteidigungsrecht nach dem Völkerrecht nicht aus, um militärische Operationen auf syrischem Boden zu legitimieren“, heißt es in der Anzeige. Eine derartige rechtliche Grundlage setze eine akute Notwehrsituation voraus, die hier nicht gegeben sei. „Die Angriffe auf zivile und medizinische Einrichtungen widersprechen daher dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und verletzen das humanitäre Völkerrecht, welches die Unversehrtheit der Zivilbevölkerung und den Schutz lebenswichtiger Infrastruktur fordert. Diese Angriffe erscheinen letztlich als eine Form kollektiver Bestrafung der überwiegend kurdischen Zivilbevölkerung in Nordostsyrien.“

Die Anzeigensteller:innen weisen darauf hin: Nach humanitärem Völkerrecht genießen medizinische Einrichtungen besonderen Schutz, da sie für die Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung und das Überleben der Zivilbevölkerung unerlässlich sind. Gemäß den Genfer Abkommen und den Grundsätzen des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) ist der gezielte Angriff auf zivile und medizinische Objekte, die keine militärische Funktion haben, strikt verboten. Sofern eine medizinische Einrichtung ihren geschützten Status verliert, zum Beispiel wenn sie für militärische Zwecke missbraucht wird, erfordert das humanitäre Völkerrecht vor einem Angriff klare Nachweise und eine Vorwarnung. Angriffe ohne solche Nachweise und Warnungen stellen Kriegsverbrechen dar.

Rechtliche Würdigung: Die gezielte Zerstörung ziviler Objekte, einschließlich medizinischer Einrichtungen und lebenswichtiger Infrastrukturen, stellt gemäß §§ 8 Abs. 1 Nr. 3 und 6 sowie §§ 10 und 11 Abs. 1 Nr. 1-3 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) eindeutig Kriegsverbrechen dar.  Diese Taten erfüllen zudem die Kriterien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 4, 8 und 10 VStGB, da sie systematisch und umfassend gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind. 
Militärische Operationen erfordern üblicherweise eine präzise Analyse der Zielgebiete, sorgfältige Zielauswahl und klare Einsatzregeln. Die planmäßige Zerstörung ziviler Infrastruktur spricht daher für eine vordefinierte Strategie, die weit über reaktive Maßnahmen hinausgeht. 
Diese gezielten Angriffe auf medizinische Einrichtungen schaffen zudem eine Atmosphäre der Angst und Einschüchterung. Die Entziehung grundlegender Dienstleistungen und lebensnotwendiger medizinischer Versorgung für die kurdisch-dominierte Zivilbevölkerung zielt letztlich darauf ab, diese zur Flucht aus ihren Heimatgebieten zu drängen. Die Zerstörung der Einrichtungen ist somit nicht nur ein militärischer Akt, sondern ein bewusster Versuch, die kurdische Bevölkerung zu kontrollieren und zu unterdrücken. | Video: Angriff auf die Covid-19-Klinik in Kobanê am 25. Dezember 2023


Über 200 Angriffe innerhalb weniger Wochen

Zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 waren über 200 Angriffe der Türkei auf mehr als 150 Ziele in Nord- und Ostsyrien verzeichnet worden. Dadurch wurden Millionen von Menschen ohne Zugang zu lebensnotwendigen Diensten wie Strom, Wasser und medizinische Versorgung zurückgelassen. Die vernichtenden Gewaltakte gegen die medizinische Infrastruktur seien hierbei einzuordnen in ein „koordiniertes Vorgehen, das darauf abzielt, gezielt die kurdisch geprägte Bevölkerung in Nordostsyrien zu treffen“, sagte Geisweid. Sie verdeutlichten „die gezielte Absicht der türkischen Streitkräfte, lebenswichtige medizinische Strukturen zu vernichten und das soziale Gefüge der kurdischen Gemeinschaft zu schwächen“. Dadurch würden zivile Infrastruktur destabilisiert und große menschliche Verluste, Vertreibungen, und schwerwiegenden körperliche wie psychische Schäden verursacht. „Dies begünstigt eine demografische Veränderung und schafft Bedingungen der Verfolgung und Unsicherheit für die gesamte Bevölkerung Nordostsyriens.“

Durchbrechen der Straflosigkeit der Türkei als NATO-Mitglied

Den Anzeigenerstatter:innen geht es auch um eine Durchbrechung der Straflosigkeit der Türkei als NATO-Mitglied. Dieser Status habe das Land lange Zeit vor der Rechenschaftspflicht für seine Handlungen geschützt. „Unter dem Weltrechtsprinzip können jedoch schwere Verbrechen wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit verfolgt werden. Diese Strafanzeige, unterstützt durch das Völkerrecht, zielt darauf ab, die Straflosigkeit der Türkei zu durchbrechen und sie für ihre Verstöße in Nord- und Ostsyrien zur Rechenschaft zu ziehen. Durch die Unterstützung dieser Strafanzeige können wir die Immunität der Türkei herausfordern und für die Betroffenen dieser abscheulichen Verbrechen Gerechtigkeit einfordern. Auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) der Bundesrepublik Deutschland, das das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit anwendet, können diese schweren Verbrechen unabhängig von Tatort und Staatszugehörigkeit der Täter verfolgt werden. Wir fordern die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

Deutsche Mediziner unterstützen Anzeige

Unterstützt wird die Anzeige gegen Erdoğan und Konsorten von dem Mainzer Arzt Prof. Dr. Gerhard Trabert vom Verein Armut und Gesundheit in Deutschland e.V. und Prof. Dr. med. Christian Haasen vom Verein demokratischer Ärzt:innen. Trabert sprach auf der Pressekonferenz von „gravierenden Menschenrechtsverletzungen“ und betonte, dass der Verein in Solidarität mit der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens weiterhin daran arbeiten werde, die medizinische Infrastruktur wieder aufzubauen.