Vor ihrer abschließenden Offensive „Gewittersturm Cizîrê“ gegen die letzten Überreste der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) setzen die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) ihre Spezialoperationen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung fort. Seit Dezember haben Zehntausende Menschen das vom IS besetzte Gebiet verlassen. Dazu haben die QSD einen Sicherheitskorridor eingerichtet. Täglich werden weitere Menschen in sichere Gebiete gebracht.
Unter den in Ostsyrien von der Terrorherrschaft des IS befreiten Menschen sind auch Eziden, die beim Überfall auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal im August 2014 verschleppt wurden. Der 13-jährige Milad Yusif ist einer von ihnen. Er wurde als achtjähriger am zweiten Tag des Genozids mit weiteren ezidischen Kindern entführt. Vor wenigen Tagen gelang ihm auf spektakuläre Weise die Flucht aus einem IS-Gefängnis in al-Bagouz. Mittlerweile befindet sich Milad in der Obhut der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien im Camp Hol in Hesekê. Im Gespräch mit Şevîn Hesen von der in Rojava ansässigen Nachrichtenagentur ANHA (Hawarnews) berichtete der Junge von seinem Martyrium bei der Terrormiliz, wie er nach Tal Afar im Nordirak gebracht wurde und schließlich in einem Gefängnis landete.
„Wir wurden gezwungen, den Koran auswendig zu lernen“
„Im Kerker waren wir zu 21 ezidischen Kindern. Die IS-Banden haben uns jeden Tag verprügelt. Wir wurden gezwungen, den Koran auswendig zu lernen. Die Kinder, die sich weigerten oder schlecht rezitierten, wurden auf bestialische Weise zusammengeschlagen“.
Von Tal Afar aus habe man die Kinder nach einer Zeit an einen anderen Ort gebracht. Milad gibt an, einen Fluchtversuch unternommen zu haben, der letztendlich aufgrund seiner mangelnden Ortskenntnisse scheiterte. Später seien die Kinder noch weitere Male an verschiedene Orte gebracht worden. In al-Bagouz landeten sie ebenfalls in einem Gefängnis.
„Zwei Freunde und ich nutzten während der Essensausgabe die Gelegenheit zur Flucht, als die Tür zu unserem Kerker kurz offenstand. Danach erreichten wir die von den QSD befreiten Gebiete“.
„Einige Kinder haben tatsächlich Selbstmordanschläge ausgeführt“
Dass der „Islamische Staat“ Kinder zu Soldaten ausbildet und als Selbstmordattentäter einsetzt, ist seit Langem bekannt. Die Kinder werden zunächst einer Gehirnwäsche unterzogen, anschließend wird ihnen Arabisch beigebracht und wie der Koran auswendig gelernt und rezitiert wird. Auch Milad spricht Arabisch, obwohl seine Erstsprache Kurdisch ist.
„Wir Kinder wurden von den IS-Banden zu Selbstmordattentätern ausgebildet. Einige Kinder haben tatsächlich Selbstmordanschläge ausgeführt. Die Kinder wurden zu Soldaten für den Dschihad gemacht“, erzählt Milad.
„Ich möchte zurück nach Şengal“
Die aus der Gefangenschaft des IS befreiten ezidischen Frauen und Kinder werden vom „Haus der Eziden“ der Region Cizîrê betreut. Die Einrichtung kümmert sich um die Rückführung der Eziden nach Şengal. Auch Milad möchte zurück nach Hause: „Ich habe meine Mutter und meinen Vater sehr vermisst. Ich möchte sie endlich wiedersehen“, sagt er. Ob seine Eltern den Genozid an der ezidischen Bevölkerung überlebt haben, ist ungewiss.
Überfall auf Şengal
Am 3. August 2014 wurden die Eziden mit dem Einfall des Islamischen Staates in Şengal einem weiteren Völkermord, dem 74. Ferman, überlassen. Wer sich retten konnte, flüchtete in die Berge. Auf dem Weg dorthin verdursteten unzählige Kinder und ältere Menschen. Wer es nicht mehr rechtzeitig aus der Stadt schaffte, wurde vom IS bestialisch ermordet. Mehr als 12.000 Menschen wurden nach UN-Angaben ermordet, über 400.000 aus ihrer Heimat vertrieben. Tausende junge ezidische Frauen wurden entführt, auf den Sklavenmärkten des IS verkauft, misshandelt und vergewaltigt. Hunderte Kinder wurden verschleppt und zu Soldaten, Henkern und Selbstmordattentätern ausgebildet. Etliche Frauen, Männer und Kinder werden bis heute vermisst.
Dem Völkermord vorausgegangen war der Abzug der Peschmerga-Einheiten der südkurdischen Regierungspartei PDK, die noch vor der Zivilbevölkerung geflohen waren und damit Tausende Ezidinnen und Eziden schutzlos und ohne Waffen zurückgelassen hatten. Den Guerillakämpfer*innen der PKK und den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gelang es hingegen, 30.000 Eziden, die im Gebirge gefangen waren, das Leben zu retten, indem sie einen Korridor freikämpften. Rund Tausend Frauen sind noch immer in Gefangenschaft des IS.