Die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien werden vom baathistischen Regime in Damaskus und dem neosmanischen Regime in Ankara in die Zange genommen. Der Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Euphrat-Region, Mihemed Şahin, beschreibt die Lage mit den Worten: „Der türkische Staat nimmt uns das Euphrat-Wasser und das Baath-Regime schließt die Grenzübergänge nach Nord- und Ostsyrien. Obwohl sie in vielen Fragen Widersprüche haben, stehen sie gegen die Autonomieverwaltung auf der gleichen Seite.“
Im ANF-Interview hat Mihemed Şahin die Situation in Nordostsyrien dargestellt.
Der türkische Staat hat in der letzten Zeit seine Angriffe auf die selbstverwalteten Gebiete verstärkt, und auch das Regime in Damaskus nimmt eine aggressivere Haltung ein. Was bedeutet das?
Die Syrien-Krise dauert seit zehn Jahren an. Natürlich findet diese Krise nicht nur in Syrien statt, sie beherrscht den gesamten Mittleren Osten. Die Völker des Mittleren Ostens sind voller Leidenschaft auf der Suche nach Freiheit. Menschen, die in Syrien, Libanon, Libyen, Ägypten, Irak, Jemen, also in diktatorischen Nationalstaaten leben, hoffen auf Freiheit. Die herrschenden faschistischen Nationalstaaten greifen jedoch permanent den Willen, die Wünsche und die Hoffnungen der Völker an. Millionen von Menschen sind geflohen und Hunderttausende wurden in den letzten zehn Jahren in Syrien getötet, aber bis heute wurden keine Maßnahmen zur Lösung der Syrien-Krise entwickelt.
Natürlich gibt es dafür viele Gründe. Die Beteiligung internationaler und regionaler Mächte und die Tatsache, dass all diese Staaten versuchen, die Syrien-Krise in ihren eigenen Interessen zu nutzen, verschlimmert die Lage. Darüber hinaus hat im Norden und Osten Syriens eine demokratische Revolution stattgefunden. Wir wollen die Krise mit einem demokratischen und friedlichen Projekt lösen. Alle Völker in Nordostsyrien nehmen an diesem Projekt teil. Es wurden eine autonome Selbstverwaltung und ein demokratisches System geschaffen. Dieses System wird ständig von Despoten und den despotischen, machtorientierten und faschistischen Regionalstaaten angegriffen. Natürlich gehört vor allem der türkische Staat dazu. Von Anfang an hat er das alternative demokratische System, das im Norden und Osten Syriens aufgebaut wurde, mit militärischen, politischen und vielen verschiedenen weiteren Methoden angegriffen.
In diesem Sinne können wir die jüngsten Ereignisse nicht als losgelöst vom vergangenen Prozess behandeln. Die Angriffe radikaler religiöser Gruppen in Nord- und Ostsyrien mit Unterstützung des türkischen Staates haben nicht erst heute begonnen. Seit Beginn der Revolution finden solche Angriffe statt. Nach der Niederlage der von ihm unterstützten Milizen hat der türkische Staat direkt eingegriffen. 2018 wurde Efrîn angegriffen. Viele internationale und regionale Mächte waren an diesem Angriff beteiligt. Danach hat der türkische Staat Girê Spî und Serêkaniyê angegriffen. Teile von Nordsyrien wurden besetzt. Die Gebiete gingen an Söldnertruppen verschiedenen Namens über. Die Angriffe auf die autonome Gebiete gehen auch heute in unterschiedlicher Weise weiter. Ganze Landstriche werden permanent mit Artillerie beschossen. Es wird versucht, die Region zu destabilisieren und die Selbstverwaltung durch Medien, Diplomatie und politische Methoden zu schwächen.
Zuletzt wurde ein Embargo gegen Nord- und Ostsyrien verhängt. Dieses Embargo wurde sowohl vom türkischen Staat als auch vom Baath-Regime verhängt und die Grenzen wurden vom Baath-Regime geschlossen. Gleichzeitig sperrte der türkische Staat das Euphrat-Wasser ab. Eines muss klar gesagt werden, die Angriffe richten sich nicht nur gegen die Kurden oder die Völker von Nord- und Ostsyrien, sondern gegen ganz Kurdistan.
Was bezweckt das Baath-Regime damit?
Es ist klar, dass sich die türkische Regierung und das Baath-Regime gegen Nord- und Ostsyrien verbündet haben. Obwohl sie in vielen Fragen Widersprüche haben, stehen sie gegen die Autonomieverwaltung auf der gleichen Seite. Wenn der türkische Staat droht, beginnt das Baath-Regime ebenfalls, Drohungen auszusprechen. Der türkische Staat hat das Euphrat-Wasser abgeschnitten und das Baath-Regime die Grenzübergänge nach Nord- und Ostsyrien geschlossen. Durch Schläferzellen in der Region wird psychologisch Krieg gegen die Gesellschaft geführt und versucht, die Völker gegeneinander auszuspielen, indem Konflikte erzeugt werden. Das, was im Moment in Minbic passiert, steht dafür beispielhaft. Beide Regime sehen das demokratisch-autonome System, das sich in Nord- und Ostsyrien entwickelt hat, als ihren Feind an. Der Erfolg des demokratischen Systems in unserem Gebiet bedeutet den Bankrott des türkischen Staates und des Baath-Regimes. In diesem Sinne wird dieses demokratische System immer das Ziel ihrer Angriffe sein.
Wir rufen alle kurdischen Kräfte, die demokratischen Kräfte, das kurdische Volk und seine demokratischen Strukturen auf, sich gegen diese Angriffe zu stellen. Wir haben gemeinsam in Nord- und Ostsyrien den IS, den größten Feind der Menschheit, bekämpft und besiegt. In diesem Sinne ist es auch eine humanitäre und moralische Pflicht, an der Seite der Völker in Nord- und Ostsyrien zu stehen.
Das vom kurdischen Volk angeführte Projekt der demokratischen Nation richtet sich nicht nur an das kurdische Volk, sondern an alle Völker der Region. Lasst uns in einem friedlichen und demokratischen System zusammenleben.
Im Gegensatz zu Ihrem Appell gibt es keine Einigkeit unter den kurdischen Kräften. Die Position der kurdischen Kräfte im Süden Kurdistans ist klar. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Im 21. Jahrhundert entstand in allen Völkern des Mittleren und Nahen Ostens Hoffnung. Es war die Hoffnung auf Befreiung. Deshalb rebellierten sie. Infolge von 40 Jahren Kampf des kurdischen Volkes ergaben sich große Chancen. Das kurdische Volk hätte zu Beginn des sogenannten Frühlings der Völker eine Einheit bilden sollen. Natürlich haben viele kurdische politische Parteien, Institutionen und Organisationen große und wichtige Anstrengungen in diesem Sinne auf sich genommen, und es wurden einige Schritte gemacht. Trotz aller Hindernisse, Angriffe und Schwierigkeiten hätte das kurdische Volk aber stärkere Anstrengungen unternehmen müssen. Es hätte seinen Kampf ausweiten müssen. Es hätte eine einheitliche Haltung und politische Position beziehen müssen. Auf diese Weise hätte es sich international beweisen und für seine politischen Rechte eintreten müssen.
Leider sehen wir heute, dass das Gegenteil für einige kurdische Parteien und Kräfte in Südkurdistan gilt. Es klafft ein riesiger Widerspruch. Während sich alle kurdischen Kräfte in einer so schwierigen Zeit zusammenschließen sollten, handeln sie genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie stellen sich im Sinne ihrer Partikularinteressen gegen eine kurdische Einheit. Während der Kampf des kurdische Volkes überall unterstützt werden müsste, stellen sich manche an die Seite des türkischen Staates und greifen es an. Diese Kräfte stellen sich mit ihrer Haltung gegen den Willen des kurdischen Volkes und beteiligen sich an den Plänen, den Kampf für die Freiheit und die Rechte des kurdischen Volkes zu zerschlagen. Gleichzeitig schwächen sie die politische Kraft des kurdischen Volkes auf internationaler Ebene.