Protest gegen Urteile im Kobanê-Prozess
Die Urteile im Kobanê-Verfahren in Ankara haben über die Türkei hinaus Aufsehen erregt. Am Donnerstag wurden 24 oppositionelle Politikerinnen und Politiker, darunter die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, im Zusammenhang mit Protesten während des IS-Angriffs auf die kurdische Stadt Kobanê im Oktober 2014 zu insgesamt 407 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. In der Türkei wurde an vielen Orten gegen das Urteil protestiert, für heute sind weitere Protestaktionen angekündigt. Auch in Kobanê selbst sind Hunderte Menschen am Freitag auf die Straße gegangen, um Solidarität mit den inhaftierten Oppositionellen zu demonstrieren.
Die Demonstration begann am Platz der freien Frau und endete mit einer Kundgebung auf dem Şehîd-Egîd-Platz. „Die Gefangenen im Kobanê-Prozess sind unsere Ehre“, stand auf einem Transparent. Die Teilnehmenden trugen Bilder der verurteilten Politikerinnen und Politiker und Fahnen mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan. Immer wieder wurde „Berxwedan jiyan e” (Widerstand ist Leben) skandiert.
Enwer Muslim (TEV-DEM) sagte in einer Rede: „Das AKP/MHP-Bündnis in der Türkei hat den IS-Angriff auf Kobanê befürwortet. Immer wieder hieß es, Kobanê werde fallen oder sei bereits gefallen. Aber Kobanê hat Widerstand geleistet und gesiegt.“
Auch der Selbstverwaltungsrat im Kanton Firat (Euphrat) verurteilte die Bestrafung der Solidarität mit Kobanê vor knapp zehn Jahren. Der Exektivratsvorsitzende Ferhan Hec Îsa erklärte, dass der türkische Staat die Forderung nach Freiheit und den Widerstand eines Volkes nicht unterdrücken könne.
Hintergrund: Der Kampf um Kobanê
Im September 2014 erschütterte der Vormarsch der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) nicht nur den Mittleren Osten, sondern die ganze Welt. Die unter anderem mit erbeuteten Waffen aus irakischen Beständen – von mehr als zwei Dutzend Ländern, darunter Russland, China, den USA sowie aus mehreren EU-Ländern, inklusive Deutschland – hochgerüstete Dschihadistenmiliz hatte nach der kampflosen Einnahme von Mossul im Nordirak und dem Genozid und Femizid im ezidischen Hauptsiedlungsgebiet Şengal ihr Augenmerk auf Rojava und vor allem Kobanê gerichtet. Die Stadt war dem IS schon lange ein Dorn im Auge gewesen – einer der letzten Orte des Widerstands gegen das selbsternannte Kalifat nördlich der De-facto-Hauptstadt Raqqa.
Die Versuche des IS, Kobanê einzunehmen und die eigenen Frontlinien an anderen Orten zu begradigen, hatten schon 2013 begonnen. Ein Jahr lang scheiterte die Terrormiliz jedoch immer wieder am Widerstand der Volk- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ. Diese Entwicklung bewegte die türkische Regierung dazu, ihre Bündnispartner im Kampf gegen die Revolution von Rojava neu zu wählen. Agierte Ankara zunächst noch vor allem mit dem syrischen Al-Qaida-Ableger Nusra und anderen Dschihadistengruppen, die sich unter dem Dach der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) organisierten, galt nun der IS als wichtigster Partner der Türkei im Norden Syriens.
Für Ankara kam der IS wie gerufen. Mit der Existenz der Dschihadisten an der türkischen Südgrenze bot sich die Möglichkeit, den IS als Fußtruppe im „Kampf gegen den kurdischen Terror“ zu nutzen. Eine Übernahme der strategisch wichtigen Region Kobanê durch den IS hätte auch bedeutet, eine weitere Verbindung zu den Nachschubwegen in die Türkei zu öffnen und eine Vereinigung der Kantone zu verhindern. Zuletzt spielte aber auch die Symbolik eine Rolle: Die Revolution sollte an dem Punkt erstickt werden, an dem sie ihren Anfang nahm. Der Aufbruch des Projekts Rojava war am 19. Juli 2012 in Kobanê ausgerufen worden. Durch eine friedliche Revolution konnte die Kontrolle über die Stadt gewonnen und die Verwaltung an die Bevölkerung übertragen werden.
Der Überfall auf Kobanê begann am 13. September 2014. Da die Selbstverwaltung für die Türkei den Hauptfeind darstellte und auch von den übrigen NATO-Staaten abgelehnt wurde, wurde Kobanê abgeschrieben. Vor den Augen der internationalen Gemeinschaft umzingelte die Terrormiliz die Stadt zunächst von drei Seiten, ehe der eigentliche Angriff mit türkischer Schützenhilfe begann. Innerhalb weniger Tage wurden knapp 300 Dörfer überrannt, hunderte Menschen verloren auf bestialische Weise ihr Leben. Der Angriff löste eine riesige Fluchtwelle aus. Bis zu 300.000 Menschen sollen damals über die türkische Grenze nach Pirsûs (tr. Suruç) geflüchtet sein. Hunderte in der Stadt verbliebene Menschen leisteten erbitterten Widerstand gegen die schwer bewaffneten Islamisten.
In einer einzigartigen Solidaritätswelle gingen weltweit Millionen Menschen auf die Straßen, um Unterstützung für die Verteidigung Kobanês einzufordern. Später wurde der 1. November 2014 zum Welt-Kobanê-Tag erklärt. Der türkische Staatspräsident Erdoğan inszenierte sich derweil als Schutzpatron des IS und kündigte triumphierend den Fall Kobanês an, während US-Außenminister John Kerry erklärte, so bedauerlich es sei, werde man nicht eingreifen, denn Kobanê habe keine „strategische Bedeutung“. Dann geschah etwas, das beide nicht vorausgesehen hatten: Das letzte Wort wurde von denen gesprochen, die um Kobanê kämpften. Die Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG, die gemeinsam mit den verbliebenen Bewohner:innen der Stadt Widerstand leisteten, und der weltweite Protest bildeten den entscheidenden Wendepunkt.
Die internationale Anti-IS-Koalition sah sich gezwungen einzugreifen. Nach Wochen des schleichenden Tempos und kaum nachhaltiger Luftangriffe bombardierten amerikanische Flugzeuge nun auch strategische Punkte des IS. Die YPJ und YPG befreiten die Stadt vom Boden aus: Haus für Haus, Straße für Straße, Viertel für Viertel. Insgesamt 134 Tage wurde in Kobanê Widerstand geleistet, bis die vollständige Befreiung am 26. Januar 2015 deklariert werden konnte. Dieser Sieg gilt als erste, aber vor allem entscheidende Niederlage des IS. Tausende Mitglieder wurden bei der Befreiung der letzten zwei Stadtteile getötet. Insgesamt wird von rund 6.000 Toten des IS in Kobanê ausgegangen.
Heute droht Kobanê die Besatzung durch die Türkei. Nach vorausgegangenen Invasionen und Angriffskriegen in den Jahren 2016 (Cerablus), 2018 (Efrîn) und 2019 (Serêkaniyê und Girê Spî), in deren Verlauf weite Teile Nordsyriens vom türkischen Staat und dschihadistischen Verbündeten des NATO-Mitglieds besetzt und hunderttausende Menschen zum Vorteil von islamistischen Milizen aus aller Welt vertrieben wurden, soll mit Kobanê auch die „Hauptstadt der Rojava-Revolution“ Opfer der imperialistischen Eroberungspolitik des türkischen Staates werden. In der vom Erdogan-Regime als Bodentruppe für die Besatzung Nordsyriens aufgestellte „Syrische Nationalarmee“ (SNA) befinden sich zahlreiche ehemalige IS-Mitglieder.