Seit der türkischen Invasion im damals selbstverwalteten Kanton Efrîn in Rojava/Nordsyrien vor sechs Jahren wurden von Seiten des türkischen Staates und seiner Söldnergruppen unzählige Kriegsverbrechen begangen. Ein Großteil der vorherigen kurdischen Mehrheitsbevölkerung wurde vertrieben. Das Besatzungsregime aus türkischer Administration, Armee und dschihadistischen Söldnergruppen terrorisiert die Bevölkerung systematisch. In den Häusern von Vertriebenen lassen sich die Angehörigen der Söldner nieder, Äcker, Wälder und Olivenhaine werden geplündert. Die ezidische Bevölkerung wird zwangskonvertiert, kurdische Namen werden ausgelöscht und die Bevölkerung wird türkisch/arabisch/islamisch assimiliert. Das systematische Vorgehen gegen die Bevölkerung dort stellt ein Kriegsverbrechen dar, das unter den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindet. Bisher ist weder juristisch noch politisch von internationaler Seite etwas geschehen.
Die Menschenrechtsorganisationen European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und Syrians for Truth and Justice (STJ) haben im Januar bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe Strafanzeige erstattet. Nach Völkerstrafrecht können in Syrien begangene Verbrechen auch in Deutschland geahndet werden, selbst wenn an ihnen keine deutschen Staatsangehörigen beteiligt waren. Patrick Kroker ist Rechtsanwalt in Berlin und beim ECCHR im Bereich Völkerrechtsverbrechen und rechtliche Verantwortung tätig. Er ist in diesem Rahmen auf Syrien spezialisiert. Im ANF-Interview berichtete Kroker über die Perspektive des Verfahrens.
Seit 2018 halten die Türkei und mit ihr verbundene salafistische Gruppen die Region Efrîn besetzt. Im Zuge dieser Besatzung kam und kommt es zu zahlreichen Verbrechen gegen die Bevölkerung. Gab es rechtliche Schritte zur Verfolgung der Taten des türkischen Staates und seiner salafistischen Söldnergruppen?
Soweit wir wissen, gab es seit der Militäroperation „Olivenzweig“ im Jahr 2018 keine Versuche, irgendwelche Täter, weder türkische Staatsbedienstete noch Mitglieder ihrer Milizen, wegen der Kriegsverbrechen in Efrîn rechtlich zu belangen. Das dröhnende Schweigen der internationalen Strafverfolgungsbehörden gegenüber diesen Gräueltaten stellte einen der Gründe dar, warum wir gemeinsam mit sechs Überlebenden und unseren Partnern von Syrians for Truth and Justice (STJ) Anzeige erstattet haben. Unserer Ansicht nach gehören die Übergriffe auf die überwiegend kurdische Bevölkerung von Efrîn definitiv zu den schwersten Verbrechen, die in Syrien begangen werden. Bisher gab es Ermittlungen gegen islamistische bewaffnete Gruppierungen wie al-Nusra und den IS, aber auch gegen Beamte des Regimes. Aber es gibt eine riesige Lücke, wenn es um die Verbrechen im Norden Syriens geht. Das ist ein blinder Fleck bei diesen Ermittlungen. Wir halten das für ungerecht und ungerechtfertigt, weil hier Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden.
Wie wird das Verfahren ablaufen?
Die deutschen Behörden waren die ersten in Europa, die ein „Strukturermittlungsverfahren“ im Zusammenhang mit Syrien eingeleitet haben. Es gibt zwei laufende Strukturermittlungsverfahren bei der deutschen Generalbundesanwaltschaft: Das erste, das im September 2011 eingeleitet wurde, betrifft vom Assad-Regime begangene Verbrechen, das andere umfasst alle anderen nichtstaatlichen bewaffneten Akteure in Syrien, es handelt sich also um ein sehr breit angelegtes Verfahren.
Die Strafanzeige, die wir am 18. Januar bei der Bundesanwaltschaft eingereicht haben, fällt in dieses zweite Strukturermittlungsverfahren. Es ist ein erster Schritt. Wir können nicht in strafrechtlicher Hinsicht ermitteln. Mit unserer Strafanzeige legen wir Beweise beim Generalbundesanwalt vor und fordern eine Untersuchung. Wir hoffen, dass der Generalbundesanwalt diese Beweise akzeptiert, Zeugen befragt und alle Informationen, die wir vorgelegt haben, analysiert.
In der Anzeige haben wir sechs Täter aus den vier berüchtigtsten Milizen, die in der Region unter dem Dach der Syrischen Nationalarmee (SNA) operieren, benannt, nämlich aus der Al-Hamza-Division, Ahrar al-Sharqiya, der Sultan-Murad-Brigade und der Suleiman-Shah-Brigade. Wenn die Bundesanwaltschaft in der Lage ist, bestimmte Täter zu identifizieren, könnte sie - und wir glauben, dass sie es sollte – ein Ermittlungsverfahren gegen diese konkreten Personen eröffnen. Falls ausreichend Beweise gegen diese Personen gefunden werden, könnte dies sogar zu Haftbefehlen gegen sie führen. Das wäre unsere Hoffnung.
In Deutschland kann kein Verfahren in Abwesenheit der Angeklagten geführt werden. Aber mit einem internationalen Haftbefehl könnten diese Personen zumindest leicht festgenommen werden, auch wenn sie in Länder reisen, die Rechtshilfe- und Auslieferungsabkommen mit Deutschland haben. Obwohl das alles noch sehr unsicher ist, sollte die deutsche Bundesanwaltschaft wachsam und für diesen Moment vorbereitet sein.
Könnten Sie uns etwas über die Vorwürfe ihrerseits gegenüber den türkischen Streitkräften und den mit ihnen verbundenen salafistischen Gruppen erzählen?
In unserer Anzeige fokussieren wir uns auf die Anführer der von der Türkei unterstützten Milizen, die die seit 2018 systematisch Gräueltaten in der Region Efrîn begehen und zu einer weitreichenden Vertreibung der lokalen Bevölkerung geführt haben. Diese Verbrechen werden mit Unterstützung und Wissen der Türkei begangen, aber die Milizen stehen im Mittelpunkt der Anzeige. Das liegt daran, dass sie in der kurdischen Region Syriens stattfinden. Sie sind daher nach unserem Verständnis auch eindeutig Teil der laufenden Strukturermittlungen zu Syrien, die sich, wie wir wissen, mit Völkerrechtsverbrechen befassen, die auf syrischem Territorium begangen wurden.
Welcher Arten von Verbrechen wird der türkische Staat genau beschuldigt?
Die Verbrechen, die die von der Türkei unterstützten Milizen in Efrîn begangen haben, bestehen in der systematischen Vertreibung der mehrheitlich kurdischen Bevölkerung und der Plünderung von tausenden Häusern und Feldern in Efrîn und den angrenzenden Gebieten. Bewohnerinnen und Bewohner werden rechtswidrig festgenommen. Sie sind Folter, gewaltsamem Verschwindenlassen und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Die Milizen haben mit ihrer Willkürherrschaft ein Klima der Angst und des Terrors geschaffen, das zu einer anhaltenden Vertreibung der kurdischen Bevölkerung geführt hat. Diese völkerrechtlichen Verbrechen begannen mit der Invasion vor sechs Jahren und dauern bis zum heutigen Tag an.