Leyla Güven und Musa Farisoğulları in Amed verhaftet

Die HDP-Abgeordneten Leyla Güven und Musa Farisoğulları sind in Amed verhaftet worden. Als Begründung wurden rechtskräftige Urteile herangezogen.

Die Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Leyla Güven und Musa Farisoğulları, sind verhaftet worden. Die Inhaftierung erfolgte am späten Donnerstagabend in Amed (türk. Diyarbakir), nur wenige Stunden nachdem das Parlament in Ankara ihnen ihre Mandate und damit auch ihre Immunität entzogen hatte. Als Begründung wurden rechtskräftige Urteile herangezogen. Dem CHP-Politiker Enis Berberoğlu wurde ebenfalls der Abgeordnetenstatus aberkannt. Er befindet sich inzwischen im Gefängnis von Maltepe, Güven und Farisoğulları überstellten die Behörden an Gefängnisse in Amed.

Der Entzug der Mandate war gestern in einer äußerst angespannten Sitzung des Parlaments beschlossen worden. Videos aus der Nationalversammlung zeigten Oppositionelle, die durch Klopfen auf den Tischreihen laut gegen die Entscheidung der AKP und ihres ultranationalistischen Koalitionspartners MHP protestierten. Die HDP-Fraktion bezeichnete das Vorgehen der Regierung als „gesetzwidrigen Schritt“ und „korrupten, unmoralischen und faschistischen Putsch“, der sich gegen den „freien Willen des Volkes“ richte und die Feindseligkeit gegenüber der kurdischen Bevölkerung zum Ausdruck bringe. Andere Abgeordnete riefen, die Regierung sei „demokratiefeindlich“.

Die Urteile gegen die Abgeordneten liegen bereits längere Zeit zurück, das Parlamentspräsidium hatte die Fälle trotzdem bisher nicht in die Nationalversammlung eingebracht. Der CHP-Politiker und Journalist Enis Berberoğlu war 2018 in einem Spionageprozess zu fast sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ihm wird vorgeworfen, der Zeitung „Cumhuriyet“ geheime Informationen über Waffentransporte der türkischen Regierung an dschihadistische Gruppen in Syrien zugespielt zu haben. Vor seiner Verurteilung befand sich Berberoğlu sechzehn Monate lang in einem Istanbuler Gefängnis in Untersuchungshaft.

Leyla Güven und Musa Farisoğulları wurden im März 2017 im Rahmen des international kritisierten KCK-Verfahrens wegen Terrorvorwürfen zu verschiedenhohen Freiheitsstrafen verurteilt. Vergangenen September bestätigte ein Berufungsgericht die Haftstrafen von sechs Jahren und drei Monaten gegen Güven und neun Jahren gegen Farisoğulları. Beide Politiker*innen wurden im Jahr 2009 verhaftet – Leyla Güven war zu dem Zeitpunkt Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Wêranşar (Viranşehir) – und saßen danach knapp fünf Jahre im Gefängnis. Nach gültiger Rechtslage hätte Güven damit nur noch eine Reststrafe von zwei Monaten abzusitzen. „Ihre jetzige Verhaftung ist jedoch völlig unbegründet. Üblich wäre es, wenn überhaupt nur Bewährungs- oder Meldeauflagen heranzuziehen“, sagte Rechtsanwältin Reyhan Yalçındağ. „Da die Fälle von Güven und Farisoğulları jedoch noch beim Verfassungsgericht anhängig sind, liegt nicht nur in der Verhaftung eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes vor. Auch der Mandatsentzug ist rechtswidrig“, so Yalçındağ. Die Juristin hat bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Amed einen Haftentlassungsantrag gestellt, der vom Gericht noch geprüft wird.

KCK-Hauptverfahren gegen „Türkei-Rat“

Nach den Kommunalwahlen im April 2009 stellt die Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) beziehungsweise nach deren Verbot im Dezember 2009 die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) in 99 Kommunen der kurdischen Provinzen (zuvor lediglich in 58) die Stadtverwaltungen. Unmittelbar danach begann eine seit den 1990er Jahren einmalige Repressionswelle in Nordkurdistan: die sogenannte „KCK-Operation“. KCK steht für „Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans“ und ist ein auf Initiative des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan gebildeter Dachverband der kurdischen Freiheitsbewegung.

Im Verlauf der Operation wurden knapp 10.000 Menschen festgenommen, rund 2.000 von ihnen wurden inhaftiert. Die strafrechtliche Verfolgung zielte hauptsächlich auf kurdische Politiker*innen sowie engagierte und international beachtete Menschenrechtsaktivist*innen. Den Beschuldigten wurde „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation oder deren Unterstützung“ sowie die „Gefährdung der nationalen Einheit“ vorgeworfen. In dem acht Jahre andauernden Verfahren gegen 154 Personen wurden 99 Angeklagte im März 2017 zu insgesamt 1109 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Menschenrechtsorganisationen sind sich bis heute einig, dass durch die KCK-Prozesse die kurdische Opposition ausgeschaltet und der Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK torpediert werden sollte. Der Anklageschrift ließen sich keine strafbaren Handlungen der Angeklagten entnehmen, die Anschuldigungen waren konstruiert und stützten sich auf Aussaggen angeblicher „anonymer Zeugen“ und ganze zwei Jahre lang illegal abgehörter Telefonate. Polizisten, Staatsanwälte und Richter, die an den Ermittlungsverfahren beteiligt waren, wurden im Rahmen der Strafverfolgung gegen Anhänger der Gülen-Bewegung (in der Türkei FETÖ genannt), die von Erdoğan und seiner Regierung für den vermeintlichen Putschversuch vom Sommer 2016 verantwortlich gemacht wird, inhaftiert und zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Im Rahmen des sogenannten KCK-Hauptverfahrens befanden sich insgesamt 83 kurdische Politikerinnen und Politiker über 18 Monate in Untersuchungshaft, bevor sie das erste Mal vor Gericht gestellt wurden. In dieser Zeit konnten die Anwälte 15 Monate lang aufgrund eines Geheimhaltungsbeschlusses zu den Ermittlungsakten keinen Widerspruch gegen die Haft einlegen. Dagegen hatten die Anwälte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geklagt. Ihrer Klage wurde im vergangenen Juni stattgegeben. Das Straßburger Gericht verurteilte die Türkei auf Grundlage des Artikels fünf der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Freiheit und Sicherheit regelt und sprach den Betroffenen Entschädigungszahlungen in Höhe von jeweils 2.750 Euro zu.