Ist die Türkei in Idlib am Scheideweg?

Der Journalist Nihat Kaya sieht die Türkei nach den jüngsten Entwicklungen in Idlib am Scheideweg. Sein Kollege Aziz Köylüoğlu meint, dass die Türkei sich nicht zurückziehen wird, um sich ein Standbein in Syrien zu sichern.

Für den türkischen Staat gilt in seiner Syrien-Politik der Grundsatz, dass die Kurden keine Rechte bekommen dürfen. Um dieses Ziel durchzusetzen, versucht er in seinem Verhältnis zu den USA und Russland einen Balanceakt. In Idlib und „im Osten des Euphrat“ führt diese Politik zunehmend in eine Sackgasse. Die Türkei bemüht sich, dieses Gleichgewicht noch eine Zeitlang aufrechtzuerhalten.

Seit im November 2015 ein türkisches Flugzeug abgeschossen wurde, spielt der türkische Staat ein zweischneidiges Spiel in Syrien. Jetzt steht ihm in Idlib und in den Gebieten östlich des Euphrat eine schwere Prüfung bevor.

Chan Scheichun ist gefallen, türkische Beobachtungspunkte sind eingekreist

Als der türkische Staat, dessen Politik auf der Verleugnung und Vernichtung der Kurden aufbaut, am 5. August Gespräche mit den USA über eine „Sicherheitszone in Nordsyrien“ führte, haben Russland und das syrische Regime eine Operation auf Chan Scheichun gestartet und den Ort zwei Wochen später eingenommen.

Während die Operation noch andauerte, hat die Türkei mit einem Konvoi Verstärkung in die Region geschickt. Die Kolonne wurde durch russisch-syrische Luftschläge gestoppt. Seit der Einnahme von Chan Scheichun ist der südlich des Ortes gelegene türkische Beobachtungspunkt in Morek von syrischen und russischen Kräften umstellt.

Erdoğan reist nach Moskau

Angesichts dieser Entwicklung reist der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan in der kommenden Woche nach Moskau, ohne den am 7. September geplanten Dreiergipfel mit dem russischen Staatschef Putin und dem iranischen Präsidenten Hasan Ruhani abzuwarten. Der Kreml hat mitgeteilt, dass Putin und Erdoğan am 27. August zusammentreffen.

Türkische Rechnung ist nicht aufgegangen

Die Journalisten Nihat Kaya und Aziz Köylüoğlu haben sich gegenüber ANF zu den jüngsten Entwicklungen um Idlib und den Balanceakt der Türkei zwischen den USA und Russland geäußert.

Nihat Kaya sieht den Grund dafür, dass die Türkei nach 2016 das Ruder Richtung Russland umgerissen hat, in der „Kurden-Phobie“. Alle Kräfte haben seit Beginn des Syrien-Krieges eigene Berechnungen aufgestellt, aber niemand hat die Kurden in die Rechnung einbezogen, sagt Kaya. Als die Kurden auf den Plan getreten sind, ist vor allem der Türkei ein Strich durch die Rechnung gemacht worden.

Als die Kurden erfolgreich gegen den IS und andere radikale Gruppen gekämpft und einhergehend mit dem Kampf um Kobanê Beziehungen zu den USA und weiteren internationalen Kräften aufgebaut haben, wurden die Pläne der Türkei zunichte gemacht. „Dass die Türkei trotz des Abschusses eines russischen Flugzeugs mit Russland zusammen vorgegangen ist und sich die Tore nach Idlib geöffnet haben, ist ein Ergebnis der durchkreuzten Rechnung der Türkei. Warum hätte Russland eine türkische Präsenz in Idlib zulassen sollen, wenn nicht dadurch Verhältnis zwischen der Türkei und den USA gestört würde? Russland hat die Situation genutzt, um Konflikte innerhalb der NATO zu schaffen. Deshalb hat Russland auch über die Launen der Türkei hinweggesehen.“

 

Das Abkommen von Sotschi

Als Ergebnis des Gipfels zwischen Russland, dem Iran und der Türkei im Rahmen der Astana-Gespräche am 12. Oktober 2017 sind zwischen Idlib und Hama zwölf türkische Beobachtungspunkte entstanden. Ein Zehn-Punkte-Abkommen zwischen Putin und Erdoğan, das am 17. September 2018 in Sotschi getroffen wurde, sah eine befriedete Zone um Idlib, die Öffnung der Handelswege M4 und M5 sowie eine „Spaltung der bewaffneten Gruppen“ vor. Der Journalist Aziz Köylüoğlu bezeichnet die Punkte des Abkommens als „Hausaufgaben, die Putin Erdoğan auferlegt“ hat: „Bekanntlich war Idlib als Ergebnis der vorherigen Verhandlungen zwischen der Türkei und Russland ein Ort, an dem sich als Opposition bezeichnete dschihadistische Gruppen gesammelt haben. Die Türkei hat jedoch ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ihr wurde bis Anfang 2019 Zeit dafür gegeben. Diese Frist wurde mehrmals verlängert, aber die Türkei hat ihre Aufgabe nicht erfüllt und so wurde die Offensive auf Idlib gestartet.“

Syrisches Regime bricht Waffenstillstand

Als die Türkei, Russland und der Iran am 3. August zur 13. Versammlung der Garantiemächte für Syrien in Kasachstan zusammentrafen, hat Syrien einen Waffenstillstand in Idlib ausgerufen. Der Waffenstillstand wurde beendet, als am 5. August die Gespräche zwischen den USA und der Türkei über eine „Sicherheitszone“ begannen. Die Operation fing erneut an.

Russland sucht den Mittelweg

Nihat Kaya meint, dass der Zeitpunkt des Beginns der Offensive auf Chan Scheichun kein Zufall ist. Die Türkei betreibe ein doppeltes Spiel zwischen den USA und Russland und sei am Scheideweg angekommen. Das werde jedoch nicht sehr schnell stattfinden: „Für die Türkei ist es die Zeit der Entscheidung. Allerdings ist es möglich, dass so wie die USA in der Angelegenheit um das russische Raketensystem S-400 einen Mittelweg gefunden haben, auch Russland in Idlib die Türkei nicht gänzlich streicht und einen Mittelweg findet. Russland wird die Kurdenfeindlichkeit der AKP-Regierung eine Zeitlang weiter für die eigenen Interessen nutzen wollen. Daher ist es noch zu früh, von einem radikalen Bruch zu sprechen.“

Zwei Gründe für die vorläufige Erfolglosigkeit der Operation

Russland und Syrien haben am 5. Mai mit einer Luft- und Bodenoffensive auf Chan Scheichun begonnen, konnten jedoch keine Fortschritte verzeichnen. Einer der dafür ausschlaggebenden Faktoren war die Tatsache, dass Russland dem Iran und der Hisbollah keine Beteiligung an der Operation erlaubt hat. Der zweite Grund war die türkische Unterstützung der Dschihadisten-Gruppen mit Waffen und der Transfer von Dschihadisten aus Efrîn und Dscharablus in die Region.

Aziz Köylüoğlu verfolgt die Entwicklungen in der Region aus unmittelbarer Nähe. Bei der jüngsten Offensive auf Chan Scheichun haben sich diese beiden Faktoren geändert, sagt er: „Es ist nicht mehr zugelassen worden, dass die Türkei Verstärkung schickt. Gleichzeitig haben sich auch Kräfte des Iran und der Hisbollah an der Operation beteiligt, denn bei den Jerusalem-Gesprächen zwischen Israel, Russland und den USA ist es zu einer Einigung darüber gekommen, dass der Iran von den Grenzen ferngehalten wird.“

 

Internationale Gipfeltreffen im September

Durch den Fall von Chan Scheichun und die Einkreisung des türkischen Beobachtungspunktes in Morek durch das syrische Regime und Russland ist eine neue Situation entstanden. Zwischen Putin, Erdoğan und Ruhani findet am 7. September ein Dreiergipfel in Ankara statt. Eine Woche später wird ein Vierergipfel zu Syrien zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Türkei stattfinden.

Türkei vertritt die NATO in Idlib

Für Nihat Kaya hängt der Verlauf der Idlib-Offensive von „der Haltung der Türkei, der Entschlossenheit Russlands, der Haltung des Westens und der UN sowie der Einstellung der internationalen Koalition“ ab. Aziz Köylüoğlu verweist darauf, dass die Türkei den Westen und die NATO in Idlib vertritt: „Beispielsweise hat der französische Außenminister erklärt, in Idlib dieselbe Meinung wie die Türkei zu haben. Ähnliche Erklärungen zu Idlib hat es mehrfach von den USA und den UN gegeben. Die Türkei ist also in Idlib nicht allein. Aber sie hat neben diesen Gemeinsamkeiten im eigenen Interesse auch mit Russland Rechnungen aufgestellt und verhandelt.“

Erklärungen zum Rückzug aus Morek

Aktuell stellt sich die Frage, ob die Türkei ihre Soldaten von dem Beobachtungspunkt in Morek nach dem Fall von Chan Scheichun abzieht. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalın haben erklärt, dass die Soldaten nicht abgezogen werden.

Aziz Köylüoğlu sagt, dass die Türkei das gleiche Spiel wie mit dem türkischen Stützpunkt Başika im Nordirak durchziehen will: „Die Türkei will sich nicht zurückziehen. Obwohl der Irak dagegen ist, besteht die türkische Militärbasis Başika im Norden von Mosul weiter. Das Gleiche gilt für Morek.“

Nihat Kaya weist darauf hin, dass es sich laut Völkerrecht um eine Besatzung handelt, wenn die Türkei sich nicht zurückzieht. „Die türkischen Beobachtungspunkte sind mit der Begründung errichtet worden, die Kampfhandlungen zu stoppen. Das syrische Regime hat dieses Gebiet jedoch wieder eingenommen, insofern macht ein Beobachtungspunkt keinen Sinn mehr. Dass die Türkei trotz des syrischen Regimes dort weiterhin präsent ist, entspricht nach internationaler Rechtsauffassung einer Besatzung.“

Türkei will sich nicht aus Syrien zurückziehen

Der türkische Staat hat im Rahmen der Abkommen von Astana, Sotschi und Moskau Artikel unterzeichnet, in denen die territoriale Gesamtheit Syriens betont wird. Trotzdem will er die besetzten Gebiete in Syrien ausweiten.

Nihat Kaya geht nicht davon aus, dass sich die Türkei so einfach aus Syrien zurückziehen wird: „Die Situation in Idlib ist anders als die in Efrîn und Dscharablus. Efrîn und Dscharablus wurden besetzt, aber in Idlib ist die Türkei als Ergebnis eines Abkommens präsent. Wenn das Abkommen keinen Sinn mehr macht, kann sie gehen. Das mag nicht sofort sein, die Verhandlungen darüber werden in verschiedenen Instanzen fortgesetzt werden.“