HPG: Der türkische Staat verschleiert seine Verluste

Der HPG-Pressesprecher Serdar Yektaş erläutert im ANF-Interview die aktuelle Situation in den Guerillagebieten und geht auf die Methoden der türkischen Berichterstattung ein.

Serdar Yektaş hat sich als Sprecher des Presse- und Kommunikationszentrums der Volksverteidigungskräfte (HPG) im ANF-Interview zur aktuellen Situation in den Guerillagebieten in Südkurdistan und den Methoden der Berichterstattung durch die türkischen Ministerien und Medien geäußert.

Seit dem 23. April findet eine Besatzungsoperation in den Medya-Verteidigungsgebieten statt. Sie veröffentlichen dazu monatliche Bilanzen. Können Sie etwas zur aktuellen Situation sagen?

Seit fast fünf Monaten findet ein heftiger Krieg statt. Zunächst einmal muss dieses Vorgehen richtig benannt werden. Die türkischen Spezialkriegsmedien stellen den Krieg so dar, als ob es sich um eine der üblichen Operationen handeln würde und die Guerilla nur ab und zu Schüsse abgeben würde. Die Realität sieht jedoch anders aus. Wir veröffentlichen ja ohnehin tägliche und monatliche Bilanzen, daher werde ich mich hier nicht wiederholen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie es sein kann, dass es dem türkischen Staat und seiner Armee, die ganze Staaten herausfordern und in Bergkarabach innerhalb eines Monats Resultate erzielt haben, seit fünf Monaten in Avaşîn, Metîna und Zap festsitzen. Unsere Freundinnen und Freunde setzen von Nordkurdistan bis zu den Medya-Verteidigungsgebieten überall meisterhaft die neuen Guerillataktiken um und fügen der Armee täglich Verluste zu. Von Heftanîn bis nach Xakurke und insbesondere in den Widerstandsgebieten Werxelê und Girê Sor wird Heldengeschichte geschrieben, die Guerilla ist überall aktiv. Da die türkische Armee nicht weiterkommt, greift sie zu verbotenen Chemiewaffen.

Können Sie noch mehr zu den Widerstandsgebieten in Werxelê und Girê Sor sagen?

In beiden Gebieten geht es vor allem um die Stellungs- und Tunnelkämpfe. Die Guerilla hatte zwar bereits früher bestimmte Erfahrungen gewonnen, aber die auf den Tunnelanlagen basierende Taktik ist als wesentliche Guerillataktik erstmalig beim Widerstand von Garê im Februar 2021 in die Praxis umgesetzt worden. Im Moment sind die beweglichen professionellen Einheiten die grundlegende Taktik der Guerilla in Nordkurdistan und in den Medya-Verteidigungsgebieten. Die meisten Aktionen werden von beweglichen Kleingruppen durchgeführt. Der Widerstand in den Stellungen und Tunneln und die Aktivitäten der Kleingruppen ergänzen sich gegenseitig. Dadurch entstehen ganze Widerstandsgebiete, die wir auch als solche benennen. Wer die Vergangenheit und die Kriegsrealität nicht kennt, kann vielleicht die Bedeutung nicht ermessen, aber wir erleben gerade die Situation, dass der türkische Staat trotz Mobilisierung seiner gesamten Möglichkeiten seit fünf Monaten die Guerilla nicht verdrängen kann und im Gegenteil selbst feststeckt und täglich Verluste hat. Unsere Freundinnen und Freunde kämpfen natürlich auch mit einem sehr hohen Anspruch und dem Willen der Apocu. Sie zeigen Entschlossenheit, Geduld und den unbedingten Willen zum Erfolg.

Natürlich geht das nicht, ohne eine Preis dafür zu zahlen. Es sind erlesene Abkömmlinge unseres Volkes, die in den Tod gehen und damit dieses Ergebnis erschaffen. Zuletzt sind am Girê Sor zu unterschiedlichen Zeitpunkten sechs unserer Weggefährt:innen durch türkische Chemiewaffen gefallen.

Das Verteidigungs- und das Innenministerium geben als türkische Spezialkriegsorgane ständig Erklärungen zu Verlusten der Guerilla ab. Wie viel davon stimmt?

Beide Ministerien und die Spezialkriegsvertreter an ihrer Spitze sind die Exekutive einer Politik, die alle Werte der Türkei in Kriege investiert. Da sie mit dieser Logik auch den Krieg gegen uns behandeln, wird die Anzahl unserer Verluste, die das eine Ministerium angibt, wie bei einer Versteigerung vom anderen Ministerium weiter in die Höhe getrieben. Sie versuchen sich an der Macht zu halten, indem sie sich selbst als Vollstrecker an den Kurden auszeichnen. Wenn der eine lügt, versucht der andere ihn mit einer noch größeren Lüge zu übertreffen. Dabei entsteht eine paradoxe Situation. Auf der einen Seite wird immer wieder behauptet, dass die Guerilla zerschlagen worden ist. Zuletzt hat Kriegsminister Hulusi Akar gesagt, es seien knapp 19.000 Guerillakämpfer getötet worden, mit der Guerilla sei es so gut wie vorbei. Auf der anderen Seite macht er Propaganda damit, dass die PKK eine riesige Armee aus zehntausenden Personen aufgestellt hat und die Türkei dadurch bedroht ist. Der Innenminister will nicht dahinter zurückstehen und erzählt am laufenden Band weitere Lügen. Die demokratische Öffentlichkeit glaubt ihnen sowieso nicht, aber inzwischen können sie nicht einmal mehr ihre eigene Basis überzeugen.

Ich kann dazu ein aktuelles Beispiel nennen: Unsere Weggefährten Bawer Eruh (Mehmet Emin Ekinci) und Ronî Dêrîk (Muhammed Şefik Ibrahim) sind am 24. Juni 2021 bei einer Bombardierung gefallen. Wir haben die Angaben zu ihrer Identität zusammengestellt und sie am 8. August veröffentlicht. Die Angehörigen haben getrauert und die Bevölkerung hat diesen Gefallenen gedacht. Die türkischen Spezialkriegsmedien haben am 13. September eine Meldung unter der Überschrift ,Erfolgreiche gemeinsame Operation von MIT und TSK' [Türkische Streitkräfte] veröffentlicht, in der so getan wird, als ob Heval Bawer gerade erst gefallen wäre. Es werden ganz offen Lügen verbreitet. Wer die Entwicklungen nicht ständig verfolgt, mag dem sogar Glauben schenken. Es sollte jedoch klar sein, dass fast alle Berichte über gemeinsame Operationen von MIT und TSK erlogen sind. Bemerkenswert ist dabei, dass die PDK-nahen Medien sich verhalten wie die türkischen Staatsmedien und diese Lügen im kurdischen Volk verbreiten.

Vor Kurzem hat Hulusi Akar behauptet, dass sieben in Gare verantwortliche Guerillakämpfer getötet worden sind. Um diese Lüge zu stützen, hat er einzeln aufgezählt, wer von den Toten für was verantwortlich gewesen sein soll. Wir haben bei den Freundinnen und Freunden in Gare nachgefragt und erfahren, dass es zwei leicht Verletzte gegeben hat. Niemand ist gefallen.

Es wird nicht nur über unsere Verluste gelogen, sondern auch über die eigenen. Sie werden gezielt verschleiert. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, wird zaghaft irgendetwas berichtet, ohne konkret Namen, Zeitpunkt und Ort zu nennen. Zuletzt wollte sich ein Soldat im Zap der Guerilla ergeben. Er wurde von seinen eigenen Leuten erschossen, die Guerilla konnte ihn nicht schützen. Wir haben seinen Namen und seine Ausweisdokumente veröffentlicht. Er hieß Sezai Güngör und sein Vater hat gesagt, dass er benutzt worden ist. Der türkische Staat hat kein Wort dazu veröffentlicht. Es sollte allen klar sein, dass ein faschistisch geprägter Staat, der wie in Gare die eigenen Leute zusammen mit unseren Weggefährten mit Chemiewaffen ermordet, niemals die Wahrheit sagt.

Sie haben mitgeteilt, dass in Xelîfan in zeitlichem Abstand der Kontakt zu zwei Guerillagruppen abgerissen ist, diese vermutlich in einem Hinterhalt der PDK ums Leben gekommen sind und Sie von der PDK eine Erklärung erwarten. Gibt es zu diesem Thema neue Entwicklungen? Hat die PDK sich in irgendeiner Form dazu geäußert?

Beim ersten Vorfall in Xelîfan haben wir eine Erklärung von der PDK gefordert, das stimmt. Als es zu einem ähnlichen weiteren Angriff auf eine siebenköpfige Gruppe gekommen ist, haben wir die Reaktion dem kurdischen Volk überlassen. Zu diesem Thema herrscht weiterhin Stille. Uns haben keinerlei neue Informationen erreicht.

Es gibt weitere Vorfälle wie in Dinartê, die der Guerilla zugeschrieben werden, obwohl Sie das dementiert haben. Was wird mit diesen Anschuldigungen bezweckt?

Wir werden verantwortlich gemacht für Vorfälle, von denen wir nicht wissen, wo und wie sie sich zugetragen haben sollen. Diese Behauptungen entsprechen nicht der Wahrheit. Wir interpretieren das so, dass die Guerilla in bestimmte Dinge hineingezogen werden soll. Es wird versucht, die Guerilla zu belagern, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken, sie in Hinterhalte zu locken, zu provozieren und sie zu Gefechten zu zwingen. Das haben wir bereits öfter zur Sprache gebracht. Die Guerilla soll in eine bewaffnete Auseinandersetzung gedrängt werden. Für den türkischen Staat ist es eine grundlegende Strategie, Kurden gegen Kurden auszuspielen. Vermutlich handelt es sich bei diesen haltlosen Meldungen um den Versuch, einen bewaffneten Konflikt mit der Guerilla zu legitimieren.