Interne Konflikte zwischen dschihadistischen Söldnertruppen in den vom türkischen Staat besetzten Gebieten in Nordsyrien haben am Dienstag zu einem Blutbad in Efrîn geführt. Nach vorliegenden Informationen sind bei dem gestrigen Anschlag mindestens 46 Personen getötet worden, darunter auch Zivilisten. Über fünfzig Personen wurden verletzt.
Nur wenige Minuten nach der Explosion erklärte das türkische Verteidigungsministerium: „Die Menschenfeinde der PKK/YPG haben erneut unschuldige Zivilisten in Afrin angegriffen.“ Mit dieser unmittelbar nach dem Anschlag erfolgten Mitteilung versucht der türkische Staat, die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken und die Voraussetzungen für einen neuen Besatzungsplan zu schaffen. Die Realität vor Ort sieht jedoch anders aus.
In den vergangenen Tagen haben sich das Chaos und die Konflikte zwischen dschihadistischen Gruppierungen in der gesamten türkischen Besatzungszone verschärft. Wie der Grundstein für das gestrige Massaker in Efrîn gelegt wurde, zeigen die internen Abrechnungen der türkischen Armee und ihrer Söldnertruppen in den vergangenen zwei Wochen in Idlib, Efrîn, Dscharablus, al-Bab, Azaz, Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain).
Bei einigen dieser Vorfälle handelt es sich um folgende:
13. April
- Hayat Tahrir al-Sham (HTS) verhindert eine gemeinsame türkisch-russische Patrouille auf der Autobahn M4 zwischen Aleppo und Latakia. Die Türkei entsendet Polizeieinheiten nach Idlib, die HTS positioniert eigene bewaffnete Einheiten dagegen.
- Die HTS verhaften in Nairab bei Idlib einen Anführer der protürkischen Miliz Faylaq al-Sham.
- In der ländlichen Umgebung von Nairab verhaftet die HTS eine Gruppe protürkischer Milizionäre.
- Zur gleichen Zeit wird der HTS-Kadi von Idlib bei einem Autobombenanschlag in Kefer Taharim getötet.
16. April
- Bei einem türkischen Drohnenangriff auf Milizionäre im Süden von Idlib werden drei Dschihadisten getötet.
19. April
- Ein hochrangiger HTS-Kommandant wird bei der Detonation einer an seinem Fahrzeug angebrachten Bombe getötet.
20. April
- Der türkische Präsident Tayyip Erdogan bewertet die HTS – ohne sie beim Namen zu nennen – als „Başı Bozuk“. [Irreguläre Truppen des Osmanischen Reiches, die sich aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammensetzten. Der Begriff bedeutet sinngemäß übersetzt so viel wie „führerlos“ oder „Freischärler“, wörtlich jedoch „kaputter Kopf“.]
- Im Stadtteil Mehmûdiyê in Efrîn kommt es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Milizen Jabhat al-Shamiya und Sultan-Murad-Brigade.
- Zeitgleich kommt es im Zentrum von Serêkaniyê zu Gefechten zwischen den Milizen Katiba Mutassim und der vom türkischen Staat eingerichteten „Militärpolizei“.
- In den Wohnvierteln Mehetê und Xirabe in Serêkaniyê brechen Gefechten zwischen Ahrar al-Sharqiya und der Hamza-Brigade aus.
21. April
- In Efrîn kommt es zu einer internen bewaffneten Auseinandersetzung der Hamza-Brigade.
26. April
- Zwei HTS-Mitglieder werden bei der Blockade einer türkisch-russischen Patrouille auf der M4 in Idlib von Soldaten der türkischen Armee erschossen.
- Die HTS greift einen türkischen Militärposten in der Nähe von Nairab an. Nach HTS-Angaben wird dabei ein Panzer zerstört, drei Soldaten der türkischen Armee werden getötet.
- Türkische Kampfdrohnen bombardieren einen HTS-Posten.
- Vertreter von HTS und Türkei führen daraufhin Gespräche im Camp al-Mustama.
27. April
- Neun IS-Mitglieder brechen aus einem türkisch kontrollierten Gefängnis in al-Bab aus.
- Nach Unstimmigkeiten zwischen dschihadistischen Gruppen in al-Bab kommt es in der Stadt zu einer großen Explosion.
- Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) bombardiert eine Drohne unbekannter Herkunft die protürkische Miliz Jabhat Wataniya Liltahrir in der ländlichen Umgebung von Homs.
28. April
- Die HTS verhindert an einem Kontrollpunkt in Idlib die Durchfahrt einer türkischen Militärkolonne.
- In Şergirak bei Ain Issa kommt es zu Gefechten zwischen protürkischen Milizionären.
Angriff auf Kobanê
Der türkische Staat versucht, die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen, um die Besatzung von Nordostsyrien zu legitimieren. Kurz vor dem Anschlag im türkisch besetzten Efrîn haben türkische Kampfdrohnen einen Kontrollpunkt der Sicherheitskräfte in Kobanê angegriffen.
Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung
QSD-Sprecher Kino Gabriel hat in einer Erklärung vom 27. April auf die „Wahrnehmungsoperation“ des türkischen Staates hingewiesen, mit der dieser über die Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung die Legitimität der völkerrechtswidrigen Besatzung Nordsyriens zu untermauern versucht:
„In der letzten Zeit werden auf der Internetseite des türkischen Verteidigungsministeriums und über offizielle Accounts des nationalen Sicherheitsrats der Türkei Falschmeldungen zur militärischen und allgemeinen Lage in den besetzten Regionen Serêkaniyê und Girê Spî sowie in Til Rifat veröffentlicht. Als Demokratische Kräfte Syriens (QSD) erklären wir ausdrücklich, dass die genannten Erklärungen und Meldungen nicht der Realität entsprechen. Es handelt sich um den Versuch, trotz der geschlossenen Abkommen die Realität vor Ort zu verzerren. In den genannten Gebieten halten sich keine unserer Kräfte auf. Stattdessen werden die Dörfer in diesen Gebieten von Kräften des türkischen Staates und dschihadistischen Söldnergruppen bombardiert. Dabei sind Zivilisten verletzt und die Infrastruktur zerstört worden.“