Gesellschaftliche Verteidigung als Antwort auf Invasion

Mit der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien nehmen die Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte eine besonders wichtige Rolle für den Schutz der Bevölkerung ein. Wir haben mit Mitgliedern dieser autonom organisierten Strukturen gesprochen.

Im Juli 2012 gelang es den Kurdinnen und Kurden in Syrien, durch eine Initiative des Volksrates Westkurdistans/Rojavas (Meclîsa Gel a Rojavayê Kurdistanê, MGRK) das Baath-Regime weitgehend unblutig aus den Regionen Efrîn, Cizîrê und Kobanê zu vertreiben. Umgehend wurde mit dem Aufbau eines neuen Gesellschaftsmodells begonnen, welches auf den Werten der Basisdemokratie sowie der Akzeptanz und Integration jeglicher ethnischen und religiösen Identitäten, Geschlechterbefreiung, gerechten Ökonomie und einer nachhaltigen Ökologie basiert. Unter Kriegsbedingungen wurde die Selbstverwaltung errichtet. Gegen Angriffe und Bedrohungen von außen organisierte sich die Bevölkerung in zivilen Verteidigungseinheiten. Diese Selbstverteidigungsmilizen waren direkt mit der Basisorganisierung in Form von Räten verbunden, strukturierten sich ab 2015 schließlich im System der Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte HPC (Hêzên Parastina Civakî). Das neue Selbstverteidigungssystem von Rojava wurde nach dem IS-Massaker von Kobanê am 25. Juni 2015 zur Verteidigung der Städte eingeführt, um die Bevölkerung gegen mögliche Angriffe vorzubereiten. Die Einheiten der HPC rekrutierten sich aus der Zivilgesellschaft und übernehmen die Aufgabe, Verteidigungspositionen und Wachen in den eigenen Dörfern und Stadtteilen einzurichten. Ihre Mitglieder erhalten dazu die nötige militärische, politische und ideologische Ausbildung. Frauen organisieren sich nach dem gleichen Prinzip: Wie in allen Strukturen in den selbstverwalteten Gebieten Nord- und Ostsyriens sind sie in den Selbstverwaltungskräften der Kommunen autonom organisiert. Als HPC-Jin bilden Frauen eine unabhängige Institution.

Mit der erneuten Invasion des türkischen Staates und seinen islamistischen Milizen in Nord- und Ostsyrien nehmen die HPC eine besonders wichtige Rolle in der Verteidigung gegen die Besatzung ein. Wir haben in Kobanê mit Osman Xelîl und Şukriye Muslim über ihre Arbeit gesprochen.

Laut Osman Xelîl werde das Schicksal einer Gesellschaft durch den von ihr hervorgebrachten Widerstand bestimmt. „Wir haben die HPC und die Frauenverteidigungskräfte gegründet, um die Gesellschaft effektiv verteidigen zu können. Die Gesellschaft ist sich ihren Problemen bewusst und in der Lage, Lösungen zu organisieren. Der türkische Staat hat unsere Städte besetzt, sie dem Erdboden gleichgemacht, unsere Frauen und Kinder getötet und unser Hab und Gut geplündert. Das alles geschah vor den Augen der Gesellschaft“, so Xelîl.

Kein Angriff, sondern Verteidigung

„Gegen uns wird ein schmutziger Krieg geführt“, hält Xelîl weiter fest und erinnert daran, dass es keinen Angriff seitens Nord- und Ostsyrien auf das Staatsgebiet eines anderen Landes gegeben hat, der das Vorgehen der Türkei rechtfertigen würde. „Wir versuchen lediglich, unsere Heimat und die Gesellschaften dieser Region zu schützen. Der türkische Staat beabsichtigt, die Errungenschaften aller Völker in Rojava zu vernichten. Wir als eine dieser Gesellschaften rüsten uns dagegen auf, um unsere Gewinne zu verteidigen. Bei den HPC handelt es sich nicht um eine vollständig bewaffnete Bewegung. Es geht ausschließlich um unsere eigene Selbstverteidigung. Wir organisieren uns lediglich zur Gewährleistung der Verteidigung unserer Gesellschaft, unserer Häuser und unserer Länder. Wir tun dies nicht, um das Territorium anderer Länder anzugreifen. Das hier ist unsere Heimat. Es sind unsere Städte, Dörfer, unsere Straßen und Häuser, die wir verteidigen. Unsere Selbstverteidigung gestalten wir auch nicht nur militärisch, sondern weiten sie auf eine ideologische und psychische Sozialisierung aus. Unsere Feinde greifen uns an. Es ist nur natürlich, dass wir als Gesellschaft unseren Platz in der Verteidigung gegen sie einnehmen. Der Grundsatz des Pluralismus bildet die Grundlage der HPC. Deshalb organisieren sich alle Bevölkerungsgruppen – Kurden, Araber, Suryoye und Armenier in unseren Strukturen“, erklärt Xelîl.

Wir tragen Verantwortung für das Volk und die Frauen

Şukriye Muslim von den Frauenverteidigungskräften HPC-Jin ist Mutter von drei Kindern. Ihr Ehemann ist 2017 im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) bei der Befreiung von Raqqa gefallen. Einer ihrer Söhne wurde 2014 im Widerstand von Kobanê verwundet. Ihre Tochter ist bei den YPJ. Muslim selbst ist seit vier Jahren bei den HPC-Jin organisiert. Sie möchte damit ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und den Frauen zum Ausdruck bringen, wie sie erklärt. „Die gesellschaftliche Verteidigung ist uns ein sehr wichtiges Anliegen. Es gibt Bedrohungen und Angriffe auf das Land, in dem wir leben, von mehreren Fronten. Dagegen bauen wir als die Frauen und Männer, Jungen und Alten der Gesellschaft unsere Verteidigung aus.“

Keine Furcht vor dem Feind

Man wisse nur zu gut, weshalb der türkische Staat Nord- und Ostsyrien angreift. „Er fürchtet sich vor unserem Willen“, sagt Muslim. „Wir wollten nie einen Krieg, aber gegenüber den Angriffen der türkischen Armee und ihren Milizen müssen wir uns verteidigen. Wir haben keine Angst. Unsere Feinde sind auf eine schmutzige Kriegsführung spezialisiert. Sie nehmen Frauen ins Visier, um uns zu schwächen und zurückzudrängen. Wir sind keinen Schritt zurückgewichen, sondern an vorderster Front verblieben. Gefallene wie Hevrîn Xelef, Barîn Kobanê, Avesta Xabûr, Amara Rênas und viele andere Frauen zeigen, dass wir keine Furcht vor dem Feind haben und uns nicht vor ihnen verneigen. Unsere Maxime lautet, den Weg der Gefallenen fortsetzen und bis zum letzten Augenblick Widerstand zu leisten. Es sind unsere Feinde, die sich vor unserem Widerstand fürchten werden.“

Errungenschaften werden niemals aufgegeben

Die Frauen Nord- und Ostsyriens seien entschlossen, den invasiven Angriffen zum Trotz nicht zurückzuweichen. Im Gegenteil: die Verteidigung der Frauen müsse verstärkt werden, erklärt Şukriye Muslim. Die Revolution von Rojava sei eine großartige Gelegenheit für die Frauen. „Deshalb wird es niemals dazu kommen, dass wir aufhören mitzureden und uns von den Errungenschaften dieser Revolution abwenden. Ob es die Organisierung der Gesellschaft ist, der Gang zu den Waffen, die Beziehung von Stellungen an der Front – ganz egal was von uns verlangt wird, wir sind bereit, es zu tun. Wenn es einer Frau nicht möglich ist, an der Front zu kämpfen, zieht sie ihre Kinder eben zu Kämpferinnen und Kämpfern auf. Jede von uns ist sich ihrer Verantwortung bewusst und organisiert sich entsprechend. Es ist relativ, wie und auf welche Weise der türkische Staat angreift: wir als Frauen werden unserer Verantwortung und unseren Pflichten nachkommen.“

Kein Fußbreit den Aggressoren

Es wäre illusorisch zu glauben, dass der türkische Staat und seine dschihadistischen Hilfstrupps ihre Arme schwankend in Nord- und Ostsyrien einfallen und das Land okkupieren könnten, sagt Muslim. „Dieser Boden wurde mit dem Blut unserer Gefallenen getränkt. Die Herzen aller Mütter brennen. Den Aggressoren das Land zu überlassen, kommt für sie nicht in Frage. Die gemeinsame Forderung aller Mütter ist es, die Invasionstruppen zu verjagen, um ihren Kindern gerecht zu werden.

Natürlich war und ist es nicht immer einfach. Kämpferinnen und Kämpfer, die uns mit ihren Körpern wie Schutzschilde schützten, werden niemals vergessen. Hier, in diesem Land, wurde Geschichte geschrieben. Wir sind dafür da, diese Geschichte zu verteidigen. Wir werden nicht zulassen, dass diejenigen, die unser Volk massakrieren, ihre dreckigen Füße auf diesen Boden setzen. Bis zum Schluss werden wir uns verteidigen.“