Seit zwei Monaten hält sich eine Delegation der Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ in Rojava / Nordsyrien auf. Während eines Besuches in der Kleinstadt Dêrik ergab sich die Möglichkeit, mit zwei Vertreterinnen der HPC Jin (Hêzen Parastina Cewherî Jin), den Frauenselbstverteidigungskräften der Kommunen, zu sprechen und an einem ihrer Ausbildungsprogramme in einem arabischen Dorf im Umland von Dêrik teilzunehmen. Wie in allen Strukturen sind auch hier die Frauen autonom organisiert.
Wir sprachen mit Selamet Muhammed Haci, 46 Jahre und Mutter von sieben Kindern. Zwei ihrer Söhne und ihr Mann sind bei den YPG. Unsere zweite Gesprächspartnerin war Hediya Ahmed Abdallah, sie ist 42 Jahre alt und seitdem sie 14 Jahre alt ist in der Bewegung aktiv. Sie hat sechs Kinder, einer ihrer Söhne und ihr Mann sind bei den kommunalen Sicherheitskräften Asayisch, ein Sohn ist bei den YPG. Beide Frauen sind seit Beginn der Revolution organisiert.
Hediya Ahmed Abdallah erzählte uns über die Entstehungsgeschichte der kommunalen Frauenselbstverteidigungskräfte:
„Die HPC Jin wurden 2014 aufgebaut, bis dahin haben diese Arbeit eher Männer gemacht. Wir haben gesehen, dass das nicht ausreicht, Frauen sollten auch an dieser Arbeit beteiligt sein. Es waren oft zu wenige Kräfte an den Kontrollpunkten, denn es gab durch den Krieg viele Verletzte. Deshalb wurde der Vorschlag gemacht, die HPC Jin aufzubauen. Direkt am Anfang beteiligten sich 47 Frauen. Ende 2015 wurde die Gründungskonferenz abgehalten, eine Leitung gewählt und eine eigene Fahne entworfen. Unsere Organisation ist nun vollkommen autonom, wir haben unsere eigene Struktur, eigene Munition und Logistik. Wir sind die Verteidigungsstruktur der Kommunen.
Anfangs haben die Männer gelacht
Anfangs haben die Männer über uns gelacht. Sie haben gesagt, diese älteren Frauen, Mütter, was können sie ausrichten, sie fürchten sich doch selbst. Im Kampf um Hol wurden die HPC um Unterstützung gebeten. 45 Frauen haben vorgeschlagen, sich selbst zu beteiligen. Zwölf Frauen haben wir dann auch geschickt. Wir haben gleich gesagt, dass wir uns autonom organisieren wollen, sonst behaupten die Männer später, sie hätten die ganze Arbeit gemacht. Auch für die Befreiungsoperation in Şaddadi haben sich viele vorgeschlagen, die Bevölkerung vertraut uns. Wir sind sehr stolz darauf, dass wir dort an der Front im Einsatz waren, wir haben uns um Logistik und Nachschub von Munition gekümmert und an der Front gekocht.
Gegen Agenten, Drogenhändler und Zwangsprostitution
Wir geben militärischen Unterricht, halten Wache an den Kontrollpunkten und sind verantwortlich für die Sicherheit bei Festen, Demonstrationen, Trauerfeiern und Beerdigungen. Auch die Sicherheit in den Kommunen gehört zu unserem Aufgabenbereich, zum Beispiel wenn dort Agenten oder Drogenhändler aktiv sind oder wenn Frauen ausgenutzt und beispielsweise zur Prostitution gezwungen werden sollen. Manchmal melden unsere Mitglieder uns, wenn in den Dörfern oder den Kommunen irgendetwas vorfällt - sei es Diebstahl, Gewalt an Frauen oder Kindern. In dem Fall reden wir erst einmal mit den Beteiligten. Es gab zum Beispiel in meinem Viertel eine alevitische Frau, deren Mann ihr verboten hat, das Haus zu verlassen. Ich habe lange mit ihm geredet, er hat dann eingesehen, dass er im Unrecht ist. Nachts machen wir Wachgänge in der Stadt, nicht nur in den eigenen Stadtteilen. Wir haben eine starke Verbindung zu den Sicherheitskräften vom Asayisch. Dêrik ist aber eigentlich sehr ruhig.
Organisierte Selbstverteidigung
Bei den HPC Jin sind Mädchen und Frauen von sieben bis siebzig. Kinder machen Sport oder lernen sich gegen Gefahren aus dem Internet zu schützen. Alle werden in ihren Institutionen ausgebildet, also zum Beispiel in der Stadtverwaltung oder im Bereich Kunst und Kultur. Die Mitglieder bilden Teams und Züge, sind also in militärischen Strukturen organisiert, die jederzeit zum Einsatz kommen können. Ein Team besteht aus vier Personen, ein Zug wiederum aus zehn. Wir wissen, wer wo ausgebildet wurde und wenn ein Angriff kommt, sind sie bereit. Wir als Verantwortliche sind hier im Zentrum vor Ort. Alle unsere Mitglieder sind Freiwillige, d.h. wir bekommen kein Gehalt. Darum ist die Anerkennung uns gegenüber auch sehr groß. Nicht alle kommen hier zum Zentrum, für manche wäre es ein großer Schritt, mit unserer Weste und Waffe heraus zu gehen, aber sie sind aktive Mitglieder und in den Kommunen organisiert.
Frauen haben einen starken Willen
Wir sind bereit an die Front zu gehen, die Frauen haben einen starken Willen und keine Angst vor dem Tod. Die HPC organisieren die Verteidigung der Gesellschaft. Sie bauen an ihren Orten Stellungen und verteidigen sie. Sie bereiten Tunnel gegen Luftangriffe vor. Sie sind dafür zuständig, dass die Stadtverwaltung im Kriegsfall weiter funktioniert, eventuell in einem Luftschutzkeller. Auch im medizinischen Bereich muss man vorbereitet sein.“
Der Kampf in den Köpfen
Unsere zweite Gesprächspartnerin, Selamet Muhammed Haci, war von Anfang an dabei:
„Ich war erst in den gemischten HPC, dann in den HPC Jin. Meine Familie ist in der Bewegung aktiv, da war es kein Problem. Meine Kinder haben natürlich schon gefragt, ob ich keine Angst an der Waffe hätte. Die Familien stellen sich oft gegen die Frauen. Sie kennen es so, dass der Mann die Frau verteidigt. Obwohl Frauen in der Gesellschaft für alles verantwortlich sind, ist das in den Köpfen drin. Der Mann bekommt durch die Verteidigung Bedeutung.
Wir wollen alle Frauen erreichen, vieles hat sich verändert. Zuerst gab es kein Vertrauen uns gegenüber, die Frauen müssen eine starke entschlossene Haltung gegenüber der Familie einnehmen und das ist ein sehr intensiver Kampf.
Wir sagen in den Kommunen Bescheid, die Ko-Vorsitzenden versammeln die Frauen, schreiben Listen, wer sich beteiligen will. Dann kommen sie zum Komingeh, zum Zentrum der Kommunen. Auch die, die dem ENKS nahe stehen, kommen, denn auch sie wollen die Stadt verteidigen. Die Bevölkerung versteht inzwischen, wer sie wirklich verteidigt. Diejenigen, die an Barzanî gebunden waren, haben auch ihr Vertrauen in ihn verloren.
Ausbildung an der Waffe für alle
Jede zivile Person bekommt eine viertägige Ausbildung an der Waffe. Manchmal erreichen wir in einem Dorf nur drei oder vier Frauen, aber das ist die Mühe wert. Dann zeigen wir einen Tag lang, wie die Waffen auseinander gebaut werden, diskutieren über theoretische Fragen zur Verteidigung und am Schluss fahren wir für einen Tag aufs Land, wo wir schießen üben. Die Frauen haben am Anfang Angst, nach hinten gestoßen zu werden, wenn sie schießen, aber dann entwickeln sie großen Ehrgeiz und wollen auch treffen.
Was in Şengal passiert ist, soll sich nicht wiederholen
Was in Şengal passiert ist, soll sich nicht wiederholen. Wir bereiten die Frauen speziell auf so eine Situation vor, damit sie im Angriffsfall nicht wehrlos sind. Insbesondere die Frauen und die Jugend wollen die Gesellschaft verteidigen. Bei den Männern ist dieser Reflex nicht so stark. Die Frauen wollen die Kinder und die Gesellschaft schützen, die Jugend kämpft für ihre Zukunft. Die Männer sind stärker durch den Staat geprägt, sie wollen nicht, dass die Frauen unabhängig sind, sie akzeptieren noch nicht einmal, dass Frauen ihre eigenen Zentren, die Mala Jin, aufbauen. Wir haben vielleicht gerade einmal zehn Prozent unserer Rechte erkämpft. Das Baath hat ein schmutziges Regime über den Mann aufgebaut. Wenn es die Angriffe durch den Feind gäbe, hätten wir eine noch stärkere Entwicklung geschaffen. Die Basis aller unserer Arbeiten sind die Akademien. Wir müssen auch die Männer erreichen, daher brauchen wir auch gemischte Einrichtungen.“
Revolution in der Revolution
Hediya übernimmt wieder das Wort und erzählt weiter:
„Es ist für uns Frauen eine große Chance, in dieser Phase zu leben und Teil dieser Revolution zu sein, mit dazu beizutragen, auch als Frauen und Mütter. Hier findet eine Revolution in der Revolution statt. Auf der einen Seite kämpfen wir für unsere Identität als Kurdinnen gegen den Feind, der uns vernichten will, andererseits führen wir einen Kampf in der Gesellschaft selbst. Wir fürchten uns nicht und laufen nicht weg, wir haben viel Mühe und Kraft in den Aufbau gesteckt. Wir haben viele Ketten gebrochen und darauf sind wir stolz. Ich mache Geschichte und schreibe sie. Heute hatten wir eine Ratsversammlung. Zwölf Frauen haben sich freiwillig gemeldet und gesagt, wir sind bereit mit der Waffe in der Hand gegen Erdoğan zu kämpfen und auch in eine bewegliche Einheit zu gehen.
Der IS als psychologische Waffe
Wir sind nicht bereit, eine türkische Besatzung zu akzeptieren. In Efrîn wurde alles geplündert. Wir wollen einen gemeinsamen Weg gehen, Liebe zueinander und zu der Gesellschaft entwickeln. Es gibt viele Spielchen des Feindes gegen uns. Der IS ist vor allem auch eine psychologische Waffe gegen uns, wir sollen uns fürchten. Dem stellen wir ein Projekt für ein freies Syrien gegenüber.
Mit einer bourgoisen Mentalität wollen sie uns ebenfalls angreifen. Sie wollen, dass wir uns vom Kampf abwenden, daher ist Rojava/Nordsyrien auch immer noch nicht politisch anerkannt. Man greift uns auf allen Ebenen an. Wir müssen auch an vielen Fronten gleichzeitig kämpfen, gegen die Angriffe von außen und innen, wir müssen die grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen, damit die Bevölkerung nicht wegläuft. Wir haben schon sehr viele Menschen verloren. Aber wie ihr seht, wurde hier an Neujahr überall gefeiert, trotz der Angriffsdrohungen durch Erdoğan halten wir zusammen.
Auf gedanklicher Ebene bereit sein
Wenn der Krieg kommt, stehen wir an der Seite der YPJ und YPG, ebenso wie die Asayisch. Wir bereiten uns vor. Abdullah Öcalan hat in den Briefen aus Imrali aufgezeigt, dass wir uns als eine Gesellschaft organisieren müssen, die auch im Krieg weiter funktioniert.
Verteidigung bedeutet nicht nur militärisch, sondern auch auf gedanklicher Ebene bereit zu sein. Einerseits bereitest du dich auf Luftangriffe vor. Aber man muss auch wissen, wie man sich gegen Hunger wappnet, wir geben Wissen weiter, wie wir uns auf Notsituationen vorbereiten. Wie Frauen sich gegen Männergewalt wehren können. Verteidigung ist sehr breit zu verstehen. Wir müssen bereit sein, im eigenen Haus die Rechte von Frauen und Mädchen zu verteidigen, zum Beispiel gegen die Heirat von Mädchen im Alter von 14 oder 15 Jahren."
Selbstverteidigungskurs in einem arabischen Dorf
Am nächsten Tag haben wir die Gelegenheit genutzt, mit einer Vertreterin der HPC Jin in ein arabisches Dorf an der Grenze zu fahren, um dort beim Selbstverteidigungskurs zuzusehen. Das Dorf besteht seit den 1960er Jahren, arme arabischen Familien aus Homs und Hama wurden hier angesiedelt, da sie dort keine Möglichkeiten hatten sich zu versorgen.
Auffällig ist, dass es außer der Sprache keinerlei Unterschiede zu kurdischen Dörfern gibt. Es gibt Ko-Vorsitzende, eine Frau und ein Mann. Zwei Männer aus dem Dorf sind im Kampf gegen den IS gefallen. Das Dorf hat eine Schule, in der 350 Kinder aus sieben Dörfern unterrichtet werden. Auch einen Kindergarten gibt es. Uns wird berichtet, dass der Militärdienst beim Regime kurz vor der Revolution von einem Jahr auf zwei Jahre erhöht wurde. Wer, während die Kämpfe begannen, gerade beim Militär war, wurde nicht zurückgelassen, viele Wehrpflichtige wurden ermordet. Im Komingeh kommen sechs Frauen und fünf Männer zusammen.
Zunächst berichtet eine Kommandantin der YPJ ausführlich über verschiedene Waffenarten und wie sich die Bevölkerung im Falle eines Luftangriffes am besten schützen kann. Dann beginnt der Unterricht an der Kalaschnikow - Auseinanderbauen und Zusammensetzen. Die meisten Männer haben Erfahrung mit Waffen, sind aber angesichts der Präsenz der YPJ und HPC Jin sowie unserer Anwesenheit offensichtlich nervös und machen Fehler. Die Frauen wirken entspannt und wissbegierig. Sie haben die Gelegenheit so lange zu üben, bis es routiniert klappt.