„Die Türkei will ein zweites 1915”

Hovsep Sarkis lebt in Hesekê und ist Nachkomme von Überlebenden des armenischen Genozids von 1915. Er glaubt, dass die Türkei mit ihrer Invasion in Rojava die friedliche Koexistenz in Nordostsyrien auslöschen und ein zweites 1915 will.

Das Osmanische Reich galt bereits als „kranker Mann am Bosporus“, als es im November 1914 unter Führung des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ (Ittihadisten) an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg eintrat. Die Ittihadisten hatten sich Anfang 1913 an die Macht geputscht, um das zerfallende Osmanische Reich zu erhalten. Sie galten als besonders nationalistischer Teil der jungtürkischen Bewegung und glaubten an die Überlegenheit der türkischen Nation gegenüber anderen Völkern. Ihr erklärtes Ziel war die Schaffung eines rein türkisch-muslimischen Staates - alles Streben nach Autonomie wurde als Verrat eingestuft und mit Gewalt niedergeschlagen. Ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Ittihadisten verlor das Osmanische Reich nahezu sämtliche Territorien im Balkan. Hunderttausende muslimische Flüchtlinge strömten nun nach Kleinasien, besonders in die armenischen bzw. kurdischen Gebiete. Für die vielen Glaubensbrüder mussten neue Existenzgrundlagen geschaffen werden. Knapp ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges fällten die Jungtürken den Entschluss, das „Armenierproblem auf eine umfassende und vollständige Weise zu beseitigen“: Aus vereinzelten Massakern, die größtenteils kurdische und turkmenische Einheiten der Hamidiye-Regimenter (bewaffnete Milizen) bereits seit Kriegsbeginn an Armeniern verübten, wurde ein organisierter Völkermord: Mit der Deportation der armenischen Elite am 24. April 1915 aus der Reichshauptstadt Konstantinopel begann der Genozid. Mehr als 1,5 Millionen Menschen kamen bei Massakern und Todesmärschen bis in die Wüste Syriens zu Tode.

Wir haben gegenseitig unsere Wundmale berührt und unsere Schmerzen gefühlt

Ein Nachkomme der Überlebenden des Genozids von 1915 ist Hovsep Sarkis. Er lebt in Hesekê, einer multiethnischen Stadt im Nordosten von Syrien, deren Bevölkerung aus Angehörigen der Suryoye, Kurden, Arabern und Armeniern besteht. Den Unterhalt seiner Familie bestreitet Hovsep Sarkis mit einem kleinen Geschäft in Hesekê. Gleichzeitig gehört er den Gesellschaftlichen Verteidigungskräften HPC (Hêzên Parastina Civakî) an, die tagsüber die Stadtviertel schützen und in der Nacht auch die Straßen sichern. Die HPC sind vor vier Jahren auf der Grundlage eines neuen Systems der Selbstverteidigung eingeführt worden, als die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 25. Juni 2015 in Kobanê ein Massaker verübte.

Seit die Türkei vor zwei Wochen einen weiteren Angriffskrieg gegen Nordsyrien begonnen hat, leisten die Mitglieder der HPC den aus Serêkaniyê (Ras al-Ain) vertriebenen Zivilisten seelischen Beistand und kümmern sich um ihre Belange. Hovsep Sarkis ist einer von ihnen. Wie alle Menschen in der Region ist auch er wütend, sein Schmerz sitzt jedoch noch tiefer: „Die Türkei will uns erneut deportieren und erneut den Völkermord. Die Türkei will ein zweites 1915“, sagt er.

„Wir Völker in Nord- und Ostsyrien gehen seit acht Jahren Hand in Hand. Wir haben gegenseitig unsere Wundmale berührt und unsere Schmerzen gefühlt. Wir haben ein gemeinsames Leben geschaffen, das nun zerstört werden soll. Die Türkei will, dass wir Völker wieder übereinander herfallen und uns gegenseitig abschlachten“, sagt Hovsep Sarkis.

Wir erleben jetzt das gleiche wie 1915

Zu den Parallelen zwischen der Invasion in Rojava und dem Völkermord vor 104 Jahren erklärt der Armenier: „1915 entgingen wir nur knapp dem Tod. Aber 1,5 Millionen Armenier wurden ermordet, ihr Hab und Gut geraubt und umverteilt. Wir kamen nach Syrien und ließen uns hier nieder. Wir bauten neue Häuser, hatten ein Dach über dem Kopf und lebten wieder. Jetzt erleben wir wieder das gleiche, was 1915 geschehen ist. Sie wollen einen zweiten Genozid an uns verüben.“

Es sei wie vor mehr als einem Jahrhundert, als die Osmanen armenische Frauen und Kinder abschlachteten, fährt Sarkis fort. „Nichts und niemandem wird das Existenzrecht anerkannt. Menschen werden getötet, ihre Häuser vernichtet. Genauso wie es 1915 getan wurde. Sie greifen Häuser an, in denen sich nur Zivilisten befinden. Es ist kein Krieg, sondern ein zweiter Genozid. Denn sie löschen Menschenleben aus.“

Hovsep Sarkis erinnert sich nur zu gut an die Anfänge der Syrienkrise im Jahr 2011. Es habe in allen Völkern „Verräter“ gegeben, die sich den Dschihadisten angeschlossen und in den Dienst der Türkei getreten sind, erklärt er. „Aber wir Völker hier, wir wurden eine Einheit. Wir reichten uns die Hand und berührten unsere Herzen. Wir verstanden einander und bauten unser gemeinsames Leben auf. Wir waren damit zufrieden, dass die Demokratischen Kräfte Syriens unsere Verteidigung gewährleisteten. Denn sie sind unsere alleinige Kraft. Sie sollen bleiben. Wir wollen mit den Kurden, Arabern und Suryoye in unserer Heimat bleiben. Der Türkei ist unser gemeinsames Leben ein Dorn im Auge. Sie hat ihre barbarischen Banden auf uns losgelassen. Aber nicht nur die Banden greifen uns an, auch die Türkei attackiert uns.“

Die Völker Syriens wollen in Frieden leben

Sarkis fordert, dass die Türkei gemeinsam mit ihren dschihadistischen Verbündeten aus Syrien verschwindet. Sie haben hier nichts zu suchen, sagt er und fährt fort: „Wir kennen die Türkei nur zu gut; wir wollen weder ihre Fahne über unseren Köpfen wehen sehen, noch wollen wir von ihr regiert werden. Da, wo es den türkischen Staat gibt, kann es Frieden nicht geben.“

Die türkische Invasion in Rojava war mit dem US-Truppenabzug aus dem Grenzstreifen erst ermöglicht worden. Hovsep Sarkis ist verbittert. „Wir haben den Amerikanern geholfen. Sie aber gaben grünes Licht, ein Massaker an den Völkern zu begehen, und lieferten uns quasi ans Messer aus. Von nun an sind Fremde hier nicht mehr willkommen. Wir wollen, dass Syrien eine Demokratisierung durchlebt und die Völker dieses Landes in Frieden leben können. Mit all den Rechten, die uns zustehen.“

Appell an Armenien

Hovsep Sarkis reicht es, wie er sagt. „Wenn du selbst nicht mit Steinen wirfst, willst du auch nicht von anderen getroffen werden“, erklärt er. „Aber ich bin hier. Als Mitglied bei den Gesellschaftlichen Verteidigungskräften werde ich meine Familie, mein Viertel und mein Volk verteidigen. Überall auf der Welt sollten sich Menschen darum bemühen, den Angriff auf uns zu stoppen. Den Syrern im Exil fällt in dieser Hinsicht eine besondere Aufgabe zu. Aber auch die USA, Russland, die arabischen Staaten und Armenien sind gefordert.“