Dicle Şêxo: Kriegsreporterin in Kobanê – 2

Die Kämpferinnen sagten: „Gebt uns die Kamera, wir werden selber filmen.“ Das haben wir natürlich nicht akzeptiert. Weggefährten bis in den Tod, das war heilig. Ich kann mir nichts wertvolleres vorstellen.

Meine hauptsächliche Aufgabe in Kobanê waren die Geschichten der Kämpferinnen und Kämpfer sowie der Bevölkerung in Til Şehr. Ich ging jeden Tag zu den Menschen an der Grenze. Ihre Lebensbedingungen waren furchtbar schwer. Auf der einen Seite hat es geregnet, es war kalt, die Soldaten an der Grenze feuerten Gaskartuschen auf sie ab. Außerdem wurden jeden Tag Mörsergranaten auf den Ort abgefeuert und die IS-Banden verübten Anschlägen. Es gab Gefallene und Verletzte in der Bevölkerung. Die dort ausharrenden Menschen sorgten selbst für ihre Verteidigung. Abends hielten sie Wache. Es gab auch keine Zelte oder so, alle bauten sich neben ihren Autos kleine Schutzräume, um die Kinder und die Alten vor den Granaten zu schützen. Wir redeten mit den Kindern. Eines hatte seine Ohrringe zu Hause vergessen, ein anderes sein Spielzeug... Ein Kind sagte, dass seine Hühner zurückgeblieben sind und es mit ihnen spielen möchte. Die Kinder dachten zum Beispiel gar nicht daran, dass sie nie in ihr Zuhause zurückkehren werden. Sie liebten die Kämpferinnen und Kämpfer.

Währenddessen leisteten die Kampfeinheiten in den wenigen verbliebenen Vierteln Widerstand. In den Straßen wurden Vorhänge gezogen, Fenster wurden mit Sandsäcken in Stellungen umgewandelt, in die Hauswände wurden Löcher geschlagen. In dieser Zeit waren die Kämpfer manchmal in einer Wohnung und die Islamisten in einer anderen, beide im selben Gebäude. Oder sie waren an den gegenüberliegenden Seiten eines Gartens.

Wenn wir die Gelegenheit fanden, forderten wir die Kämpferinnen und Kämpfer auf, von ihren Erlebnissen zu berichten. Es gab auch komische Geschichten. Şehîd Hamza erzählte von einem Erlebnis: „Eines Tages waren wir in einer Wohnung und hörten plötzlich Geräusche aus dem anderen Zimmer. Wir griffen sofort mit schweren Waffen und Handgranaten an. Und was mussten wir sehen, als alles nur noch Rauch und Staub war: Eine Katze!“ An einem anderen Tag war ihnen eine Ziege weggelaufen, die sie schlachten und essen wollten. Sie lief zu einer anderen Front. Dort dachten sie, es wäre der IS, und sie schossen vom Fenster aus. Erst später bemerkten sie, dass es eine Ziege war. Und als sie einmal eine Wand mit einem Vorschlaghammer einschlugen, stellten sie fest, dass die Islamisten dasselbe auf der anderen Seite tun. Durch das enstandene Loch in der Wand konnten sie sich gegenseitig sehen. Nach einem ersten Moment der Verblüffung warfen sie eine Handgranate, der Islamist wurde getroffen.

Es gab noch andere solcher Vorfälle: Zwei Islamisten hatten sich verlaufen und waren auf die Seite der Kämpferinnen und Kämpfer gekommen. Zu jener Zeit war die Kleidung ähnlich. Eine Kämpferin, sie hieß Ezda, sagte allen, wer wohin gehen soll. Dann kamen die beiden Islamisten und sie sagte: Geht ihr in diese Richtung. In dem Moment bemerkten beide Seiten ihren Irrtum. Unsere Leute waren schneller und haben die Islamisten erschossen.

Die Islamisten hatten schwere Waffen, die sie aus Mossul mitgebracht hatten. Die schwerste Waffe unserer Einheiten war eine Flak, die zwischen den drei Fronten hin- und hertransportiert wurde. Überlegen war unsere Kämpferinnen und Kämpfer nur durch ihre Willensstärke. Das war das Geheimnis ihres Erfolgs.

Einige der neuen Kämpferinnen und Kämpfer, die im Zuge der Mobilmachung ankamen, sind zehn Minuten später gefallen. Manche hatten noch ihre Rucksäcke auf. Sie hatten noch nicht einmal Kobanês Wasser trinken können. Es gab welche, die gerade erst in eine Stellung an der Front gekommen waren und gefallen sind, bevor sie auch nur den Namen der anderen erfahren hatten, mit denen sie Schulter an Schulter kämpften. Es war ein großer Krieg und genauso groß war der Widerstand. Mit diesem Widerstand hat sich Kobanê auf der Welt einen Namen gemacht. Erst dann hat die Koalition eingegriffen und die IS-Banden bombardiert. Es war im letzten Moment, nur noch ein Stadtviertel war in unserer Hand. Alle Fronten waren zu einer einzigen Linie geworden. Und die Kämpferinnen und Kämpfer schlugen täglich zu.

Der IS begann dann damit, die Häuser anzuzünden. Die Islamisten wollten damit verhindern, dass die Aufklärungsflugzeuge sie sehen. Außerdem versuchten sie mit Autobomben in die Gebiete einzudringen, in denen sich die Kämpferinnen und Kämpfer aufhielten. Bei diesen Bombenanschlägen gab es viele Gefallene. Trotz allem wurde eine Befreiungsoperation gestartet. Die Kämpferinnen und Kämpfer rückten nur mit ihrem Willen und Gewehren in den Händen beharrlich weiter vor.

Als wir den Krieg verfolgten, waren wir fünf Frauen. Im unteren Stockwerk waren die Männer. Abends hielten wir abwechselnd Wache. Der Ort war nahe der Grenze und der Front. Wenn wir zum Beispiel morgens an die Front gingen, verabschiedeten wir uns voneinander, wir waren im Krieg. Man wusste nie, wer zurückkommt und wer nicht. Alle gingen immer an die eigene Front, ich war an der Ostfront. Dort waren Kämpfer aus der Aleppo-Gruppe. Sie sicherten uns ab, bis wir die Front erreicht hatten, oder wenn wir sie wieder verließen. Ohne Deckung ließen sie uns niemals gehen. Um uns zu schützen, hätten sie sich selbst geopfert.

Wir machten Reportagen an der Front und am nächsten Tag wurde uns gesagt, dass unser Gesprächspartner gefallen ist. Es war schwer. Ich dachte manchmal sogar, dass ich niemanden mehr interviewen sollte, weil alle danach fallen. Şehîd Xemgîn, Şehîd Cûdî, Şehîd Rizgar, Şehîd Hamza, Şehîd Silava, Şehîd Hasret, Şehîd Nefel, Şehîd Bêrîtan und viele weitere, die ich gar nicht alle aufzählen kann, sie alle sind gefallen. Şehîd Xemgîn hatte zum Beispiel gesagt: Ich werde die YPG-Fahne auf dem Kaniya-Kurda-Hügel hissen! Drei Tage vor der Befreiung von Kobanê ist er gefallen. Viele träumten davon, auf dem Miştenûr Tee zu trinken. Sie sind leider gefallen. Şehîd Cûdî wollte nach der Befreiung von Kobanê auch Şengal befreien und ist in Baxdikê gefallen.

Ich werde diese Tage niemals vergessen. Alle Gefallenen leben mit mir. Alle, mit denen ich in diesem Kampf um Tod oder Leben zusammen war, die Gefallenen und die Lebenden, sie leben mit mir weiter, ich kann sie spüren. Manchmal treffe ich mich mit den Überlebenden und dann erleben wir diese Tage erneut.

Das wichtigste, was ich in Kobanê gelernt habe, war der genossenschaftliche Umgang. Ich war mit meiner Kollegin Xeznê zusammen. Wenn eine Angriffsgruppe loszog, ging immer eine von uns für die Aufnahmen mit. Ich sagte: Ich werde gehen. Sie sagte: Nein, ich werde gehen. Sie wollte mich schützen und ich sie. Und die Kämpferinnen und Kämpfer von den YPJ und YPG sagten: Bleibt ihr hier, es ist gefährlich. Gebt uns die Kamera, wir werden selber filmen. Das haben wir natürlich nicht akzeptiert. Weggefährten bis in den Tod, das war heilig. Ich kann mir nichts wertvolleres vorstellen.

Es war sehr schwer bei so vielen Gefallenen, aber wir haben uns bemüht, unsere Aufgabe zu erfüllen. Es sind auch viele Journalistinnen und Journalisten verwundet worden und gefallen. Manche kamen nur für ein einziges Foto. Sie waren wertvoll. An der Grenze gab es jedoch Journalisten, die die Wahrheit verdrehten. Wir haben in der Tradition der freien Medien trotz fehlender Möglichkeiten versucht, der Öffentlichkeit den Widerstand in Kobanê zu vermitteln. Wer weiß, vielleicht haben auch wir eine Rolle dabei gespielt, dass die Staaten der Koalition dann doch noch eingegriffen haben.

Insbesondere die Kämpferinnen hatten einen großen Anteil an der Befreiung von Kobanê. Die IS-Leute hatten Angst, wenn sie Frauenstimmen und ihre Triller gehört haben. Sie haben geglaubt, dass sie nicht ins Paradies kommen, wenn sie von Frauen getötet werden. Die YPJ haben in Kobanê Geschichte geschrieben. YPJ steht seitdem für Führung, Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft und Widerstand.

Der Tag der Befreiung

Wir hatten an diesem Tag an der Front übernachtet und waren nicht zu unserem Platz zurückgekehrt. Seit ein oder zwei Tagen waren die Islamisten sowieso auf der Flucht. Aber die Bewegung unter den Kämpferinnen und Kämpfern war wirklich sehenswert. Es wurden große und kleine Fahnen vorbereitet und es wurde darüber geredet, wer sie wo aufhängen wird. Ich war wieder mit Xeznê zusammen. Es sollte eine letze Säuberungsoperation stattfinden, Xeznê ging mit. Es konnten ja noch Islamisten da sein, die sich versteckt hatten. Als ich alleine zurückblieb, ging ich hinterher. Es gab kein Gefecht. Ich ging auf die Straße, niemand war da. Nur die Leichen des IS lagen dort. Es herrschte eine furchterregende Stille.

Als wir nach Kaniya Kurda kamen, war die Freude der Kämpferinnen und Kämpfer ein unbezahlbarer Anblick. Überall waren die Freudentriller der Kämpferinnen zu hören. Es wurden Schüsse in die Luft abgefeuert. Dann liefen sie los, um auf dem Hügel die Fahne zu hissen. Eigentlich hatte der IS den Hügel vermint, aber die Kommandanten konnten niemanden aufhalten und so wurden große Fahnen der YPG und YPJ aufgehängt. Ich hatte eine kleine Kalaschnikow, wir trugen im Krieg zu unserer Sicherheit Waffen. Benutzt hatte ich sie nie. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, vor Glück habe auch ich ein Magazin leergeschossen. Ich sah jedoch auch die hinter dem Glück versteckte Trauer bei allen. Die gleichen Gefühle hatte ich auch.

Am Anfang habe ich doch erzählt, dass der IS Kobanê genau in der Zeit angegriffen hat, als ich heiraten sollte. Stattdessen zog ich Tarnkleidung an. Meine Freundinnen bereiteten sich auf meine Hochzeit vor. Als sie mich so sahen, sagten sie: Du wolltest doch heiraten. Ich sagte: Diese Kleidung ist mein Brautkleid, ich werde eine Braut Kurdistans sein. - Einer meiner Onkel war bei den YPG. Als er mich in militärischer Kleidung sah, auf der einen Seite das Gewehr, auf der anderen die Kamera, war er sehr glücklich.

Nachdem Kobanê befreit war, habe ich die Verlobung aufgelöst. Ich sagte es meiner Familie. Sie wollten wissen, ob es meine eigene Entscheidung ist. Dann sagten sie: Du musst es selber wissen. Gemäß der Bräuche in Kobanê ist die Auflösung einer Verlobung natürlich eine große Schande für die Familie. Meine Familie sprach ein oder zwei Wochen nicht mit mir. Auf der anderen Seite war sie stolz darauf, dass ich im Krieg gewesen war. Dutzende meiner Freundinnen und Freunde waren gefallen, ich hatte so viel gesehen. Nach dieser Zeit war die Ehe nichts für mich, ich konnte mich nicht darauf einlassen.

Bei der Befreiung der Dörfer gab es keine Autos. Ich bin in alle Dörfer zu Fuß gegangen. Auf meinem Rücken das Laptop, die Kamera, an der Seite die Waffe. Manchmal haben wir gehungert, es gab kein Wasser und wir haben sehr gefroren. Es war wirklich schwer, aber glaubt mir, es waren sehr schöne Tage.

Als Kobanê vollständig befreit war, ging ich zu einer Medienfortbildung. Sie dauerte vier oder fünf Monate. Nach meiner Rückkehr begann die Befreiungsoffensive in Silûk und Serêkaniyê. Ich habe an der gesamten Offensive teilgenommen. Als diese Gebiete befreit waren, war ich am Tişrin-Staudamm und in Minbic dabei. In Minbic war ja schon vorher ein Rat gegründet worden und ich hatte daran mitgearbeitet. Ich war sozusagen ein Gründungsmitglied. Die Offensive in Minbic war für mich sehr sehr hart. Es sind wunderbare Menschen dort gefallen. Abu Leyla zum Beispiel.

Wir gingen in die Dörfer. Vor allem in den arabischen Gebiet waren die Frauen vom IS grausam unterdrückt worden. Die kurdischen Gebiete waren in dieser Hinsicht ein bisschen im Vorteil. Den Araberinnen ist einfach alles angetan worden. Jedes Mädchen, jede Frau, jede Mutter war von tiefem Schmerz erfüllt. Vor den Augen der Mütter waren ihre Kinder geköpft worden, Frauen wurden die Hände abgetrennt. Frauen wurden gefoltert, weil ein kleiner Teil der Hand oder des Gesichts zu sehen war. Ihre Hoffnung hatten sie trotzdem nicht verloren. Sie fragten die Kämpferinnen: Wo wart ihr so lange? Wir haben sehr auf euch gewartet. Sie weinten Tränen der Freude und des Schmerzes, beides vermischte sich. Frauen waren in Käfige gesperrt worden und mussten tagelang neben abgetrennten Köpfen ausharren. Diesen Schmerz konnte man in ihren Augen sehen.

Bei der Raqqa-Offensive meinten die Freundinnen: Es reicht, du hast schon an fünf Offensiven teilgenommen. Es ging mir nicht gut, ich hatte so viele Tote gesehen. Aber wenn ich meine jetzige Erfahrung schon im Kobanê-Krieg gehabt hätte, hätte ich eine viel bedeutendere Arbeit machen können.

Als Journalistin habe ich zuerst für ANF gearbeitet, nach der Gründung von ANHA wechselte ich dorthin. Seitdem arbeite ich weiter. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch Şehîd Mustafa und Şehîd Dilişan gedenken, wir waren bei den Offensiven zusammen. Ihre Fahne ist in unserer Hand und wir folgen ihren Spuren.