Das BAMF auf Erdoğans Spuren: Skandalöse Ablehnung von Idris Isen

Der kurdische politische Flüchtling Idris Isen wurde in seinem Asylverfahren beim Bundesamt für Flucht und Migration abgelehnt. In der Ablehnung des per Interpol gesuchten Aktivisten unterstützt das BAMF offen die Repressionspolitik des Erdoğan-Regimes.

Idris Isen ist in der Türkei wegen Redebeiträgen zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Nach der Bestätigung seiner Haftstrafe wegen „Terrorpropaganda“ war Isen 2011 nach Südkurdistan geflohen. Seitdem arbeitete er dort als Ingenieur. 2018 begann die eng mit der Türkei verbündete südkurdische Regierungspartei PDK Flüchtlinge aus Nordkurdistan ins Visier zu nehmen. Unter anderem wurde Isen zum Ziel der Repression und floh aus Angst vor einer Auslieferung an die AKP/MHP-Diktatur vergangenes Jahr nach Deutschland. Dort stellte er einen Asylantrag. Sein Asylantrag wurde vom Bundesamt mit Bescheid vom 30. Juli 2020 abgelehnt. Die Begründung liest sich wie eine Anklageschrift aus der Feder von Erdoğans Juristen.

BAMF: Verfolgung unter PKK-Vorwürfen kein Schutzgrund

In der Begründung heißt es: „Insoweit der Antragsteller vortrug, er sei wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu 6 Jahren und 3 Monaten verurteilt worden, zudem gäbe es noch ein weiteres diesbezügliches laufendes Gerichtsverfahren gegen ihn, so kann dies nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen. Es ist festzuhalten, dass für Personen, die militante staatsfeindliche Organisationen wie die PKK oder damit in Verbindung stehende Organisationen in der Türkei unterstützt haben bzw. haben sollen und deshalb verurteilt worden sind, allein aus dieser Verurteilung heraus noch kein Schutzgrund erwachsen kann (vgl. § 3a Abs. 3 AsylG).“

Verfolgung von staatsfeindlichen Aktivitäten das Recht eines jeden Staates“

Während der türkische Staat die Bevölkerung mit täglichen willkürlichen Inhaftierungen terrorisiert und schon die Forderung nach Frieden zu einem Terrorverfahren wegen „Propaganda für“ oder gar „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ führt, erklärt das BAMF: „Es ist zu prüfen, ob die Strafverfolgung des Antragstellers tatsächlich der Kriminalitäts-/ oder Terrorismusbekämpfung dient oder zur Verfolgung eines politischen Gegners instrumentalisiert wird. Allerdings ist der Schutz vor Verfolgung staatsfeindlicher Aktivitäten das Recht eines jeden Staates, d.h. eine Aufklärung sowie eine Strafverfolgung staatsfeindlicher Aktivitäten grundsätzlich legitim.“

Den Antragsteller erwartet ein faires rechtsstaatliches Verfahren in der Türkei“

Besonders zynisch werden die BAMF-Entscheider, wenn sie dem politischen Flüchtling trotz der massiven politischen Einflussnahme der Regierung auf Verfahren und der Masse an politisch motivierten Verurteilten nahelegen, das „rechtstaatliche juristische Verfahren in der Türkei zu führen. Wie im weiteren ausgeführt, ist davon auszugehen, dass ihn ein faires rechtstaatliches Verfahren erwartet sowie dass ebenso die bisherige Verurteilung im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens getroffen wurde“. Das BAMF widerspricht sich im nächsten Satz selbst, wenn es einräumt: „Nach den aktuellen Einschätzungen des Bundesamtes ist die Lage in der Türkei gegenwärtig so, dass seit dem Putschversuch vom 15.07.2016 und der Verhängung des Notstands am 20.07.2016 in politischen Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden kann.“

Die Bezugnahme darauf, dass die Gerichtsentscheidung gegen Isen bereits 2009 gefällt wurde, erweist sich gleich in mehrfacher Hinsicht als mangelhaftes Argument. Die türkische Justiz war bereits damals nicht unabhängig. Man erinnere sich an den Beginn der KCK-Verfahren genau in diesem Jahr sowie die Inhaftierung von hunderten DTP-Bürgermeister*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und vielen anderen nach dem DTP-Wahlsieg bei den Kommunalwahlen. Das Argument kann außerdem nicht gelten, da - wie das BAMF selbst einräumt - es ebenfalls um aktuelle Verfahren in der Türkei geht, die das BAMF einen Absatz darüber noch als „fair und rechtstaatlich“ gelobt hatte. Weiter unten im Text wiederholt das BAMF in Bezug auf den Haftbefehl: „Den Betroffenen erwartet in der Türkei ein Ermittlungs- bzw. Strafverfahren, welches nicht per se unverhältnismäßig, rechtswidrig oder unzumutbar wäre.“

Angriffe auf Meinungsfreiheit mit Terrorparagraphen sind für BAMF „verhältnismäßig“

Das Urteil von sechs Jahren und drei Monaten gegen Isen wird vom BAMF als „gängiges Strafmaß“ und somit „keine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung“ bezeichnet. Dass Isen alleine wegen der Teilnahme an Kundgebungen und Redebeiträgen zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, ist für das BAMF kein legitimer Grund, um nach Schutz zu suchen.

Exmatrikulation und Repression wegen „Terror“ ebenfalls rechtstaatlich

Auch die Tatsache, dass Isen exmatrikuliert und von der Polizei systematisch schikaniert wurde, stellt für das BAMF keinen Anhaltspunkt für ein nichtrechtsstaatliches Verfahren oder Diskriminierung dar. Denn „die Probleme an der Universität, u.a. Ausschluss vom Unterricht und Exmatrikulation, werden mit den dem Antragsteller vorgeworfenen Beziehungen zur terroristischen Vereinigungen (sic!) begründet, auf welche auch im Urteil vom 24.03.2009 des 2. Schwurgericht Erzurum Bezug genommen wurde“.

Misshandlungen in Haft nur „Einzelfälle“ – „Es gibt keine systematische Folter in der Türkei“

Auch für die türkische Polizei bricht das BAMF eine Lanze. Zu den vorgetragenen Misshandlungen von Isen in türkischer Haft erklärt das Bundesamt: „Weiterhin ist davon auszugehen, dass die vorgetragenen Amtswaltergewaltsexzesse lediglich als vereinzelte Kompetenzüberschreitungen einzelner Beamter zu sehen sind. Es sind mithin keine Anhaltspunkte erkennbar, die auf eine diesbezügliche systematische, auf den Antragsteller zielgerichtete Verfolgung hindeuten würden.“

Die Bundesbehörde lobt die „Null-Toleranz-Politik“ gegen Folter der türkischen Regierung, während Menschenrechtsorganisationen einen massiven Anstieg von Übergriffen und Misshandlungen im Gewahrsam und in Haft beklagen. Die Behörde weiter: „Nach den Erkenntnissen des Bundesamtes gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass systematische Folter in türkischen Gefängnissen ausgeübt wird … Eine Gefährdung aller Inhaftierten einschließlich des Antragstellers ausschließlich aufgrund eines Gefängnisaufenthaltes ist hiernach ausgeschlossen.“

Kurden werden nicht verfolgt“ – BAMF spricht Kurd*innen das Recht auf politische Forderungen ab

Das BAMF beruft sich auf Gerichtsurteile und erklärt: „Es kann auch davon ausgegangen werden, dass Kurden im Osten und Südosten der Türkei keiner regional begrenzten staatlichen Gruppenverfolgung unterliegen.“ Die Frage sei aber auch nicht wichtig, denn die Menschen könnten ja in den Westen fliehen. Aus „Ostanatolien zugewanderten Kurden" (sogenannte nichtassimilierte Kurden), die sich „weder aktiv noch hervorgehoben für separatistische Bestrebungen einsetzen, können in der Westtürkei grundsätzlich unbehelligt leben, es sei denn, sie sind in strafrechtlich relevanter Weise, vor allem für die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen (KADEK/KONGRA-GEL/KCK), aktiv geworden“.

Kurzzeitige Festnahmen gegen vermeintliche oder tatsächliche PKK-Unterstützer“

Vollkommen an der Realität vorbei geht das BAMF mit der Behauptung: „In Zusammenhang mit Sympathiekundgebungen für Öcalan und die PKK sowie ihre Nachfolgeorganisationen kam es zwar immer wieder zu Festnahmen. Bei diesen Aktionen handelte es sich jedoch um anlassbezogene, großteils kurzzeitige Maßnahmen, gegen vermeintliche oder tatsächliche PKK-Unterstützer, darunter überdurchschnittlich häufig v. a. Jugendliche sowie Mitglieder und Anhänger der pro-kurdischen Parteien.“ Über die Massenfestnahmen und Inhaftierungen, die täglich in der Türkei und Nordkurdistan stattfinden und die zehntausenden politischen Gefangenen scheint das BAMF nichts wissen zu wollen.

Isen: „Entscheidung gegen jedes Recht“

Isen erklärt zu der BAMF-Entscheidung: „Ich musste auf Druck der PDK aus Südkurdistan fliehen, und jetzt erlebe ich in Deutschland diese Entscheidung gegen jedes Recht. Bei meiner Antragsstellung haben sie mir gesagt, die Türkei sucht Sie per Interpol, wenn Sie das Land verlassen, werden Sie verhaftet. Jetzt benutzen sie die Entscheidung von Interpol und wollen mich der Türkei übergeben.“