Die Landwirtschaft ist der zentrale Wirtschaftsfaktor in den selbstverwalteten Gebieten Nord- und Ostsyriens. Aufgrund der Quasikolonialpolitik des syrischen Regimes wurde die vorwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnte Region Cizîrê praktisch ökonomisch nicht entwickelt und nur zur Erdölförderung und Weizenproduktion genutzt. Die Selbstverwaltung versucht die Ökonomie durch Kooperativen ebenso wie die Landwirtschaft zu diversifizieren. Dem stehen allerdings massive Angriffe der Türkei und mit ihr verbündeter Milizen im Wege. Die Angriffe auf die Ökonomie haben sich zu einer zentralen Taktik des Krieges gegen die Selbstverwaltung entwickelt. Seit 2019 stecken der sogenannte „Islamische Staat“ (IS), die türkische Armee und ihre Paramilitärs erntereife Felder in Brand. Begleitet werden diese Angriffe von einem seit 2014 andauernden ökomischen Embargo, dass immer wieder auch von der PDK-Regierung in Südkurdistan und dem Assad-Regime umgesetzt wird.
Trotz dieses Embargos und des Kriegs gegen den IS prosperierte die Region seit der Revolution in einem unter dem Regime nie gekannten Ausmaß. Während zuvor die landwirtschaftlichen Produkte in den Süden exportiert wurden und es nicht einmal größere Getreidemühlen in Nordsyrien gab, entwickelte sich auf der Grundlage von Kooperativen eine starke und diverse Landwirtschaft, die in der Lage ist, Nordsyrien und theoretisch auch einen großen Teil des Rests des Landes zu versorgen. Diese Entwicklung erlitt jedoch im Jahr 2019, als die Feldbrandstiftungen zum ersten Mal in großem Stil durch IS-Zellen gemeinsam mit der türkischen Armee eingesetzt wurden, einen schweren Schlag. So ist mittlerweile die Landwirtschaft nicht nur eine Stärke, sondern auch eine Achillesferse der Region. Im Jahr 2020 wurden bereits über 8.000 Hektar Felder vernichtet und die Angriffe gehen weiter.
Die Türkei übernimmt Taktik des IS
Selman Barûdo ist Ko-Vorsitzender des Landwirtschaftsrats der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Er sagt, dass mit den Brandstiftungen bezweckt wird, die Bevölkerung hungern zu lassen. Insbesondere in den von der Türkei besetzten Gebieten werde die Landwirtschaft extensiv ausgebeutet und geplündert.
Die ungewöhnlich hohe Zahl von Feldbränden fiel im vergangenen Jahr auf. Daraufhin wurde eine Untersuchungskommission gebildet, deren Aufgabe es ist, die Brandursachen zu ermitteln. Zu einer Vielzahl der Brände, die durch Schläferzellen ausgeführt wurden, bekannte sich der IS auf seiner Webseite. Außerdem wurden zahlreiche landwirtschaftliche Flächen durch türkische Grenzsoldaten in Brand geschossen und die Feuerwehr angegriffen, als sie versuchte, die brennende Ernte zu löschen. Die Ökonomie der Autonomiegebiete Nord- und Ostsyriens wurde so vom IS und der Türkei Hand in Hand in die Zange genommen.
Unterstützung für geschädigte Landwirte
Die Kommission der Selbstverwaltung beschäftigte sich nun mit der Erfassung der Schäden. Bis zum 16. Juni 2019 waren bereits 42.000 Hektar Felder mit Ernte im Wert von etwa 33 Millionen Euro vernichtet worden. Auf einer Versammlung der Selbstverwaltung am 4. Juli 2019 wurde die materielle Unterstützung der geschädigten Landwirte beschlossen. Barûdo erklärt, dass in diesem Zusammenhang rund 6.000 Landwirtschaft betreibende Menschen Unterstützung erhalten haben.
Versuche die Ernte zu schützen
Im Jahr 2020 wurden intensive Maßnahmen zum Brandschutz der Felder eingeleitet. Es wurden Dutzende freiwillige Feuerwehr-Hilfeleistungskontingente mit 60 zusätzlichen Fahrzeugen aufgestellt. Außerdem erhielten Beschäftigte in der Landwirtschaft 1.000 Brandschläuche, die an die Bewässerungssysteme angeschlossen werden können. Um die Sicherheit der Felder zu erhöhen, wurden 30.000 Mitglieder der Sicherheitskräfte abgestellt, welche die Felder rund um die Uhr bewachen. Unterstützt werden diese von 15.000 Mitgliedern der Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte (HPC). Die HPC sind an die Kommunen genannten Basisräte angeschlossene lokale Selbstverteidigungseinheiten, die hinter der Front agieren. Barûdo berichtet, dass die Selbstverwaltung nach der Besetzung von Serêkaniyê (arab. Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) im vergangenen Herbst mit ausgedehnten Brandstiftungen rechnete und deshalb die Schutzmaßnahmen so stark wie möglich ausgedehnt hat.
8.000 Hektar verbrannt
Trotz aller Schutzmaßnahmen ist der bisher entstandene Schaden gewaltig. 8.000 Hektar erntereifes Getreide wurden vernichtet. Da die Gebiete immer wieder durch Artillerie in Brand geschossen werden, bleibt den Sicherheitskräften nichts anderes übrig, als vor allem als Brandwachen zu agieren und möglichst schnell Löscharbeiten aufzunehmen. Diese werden aber durch den Beschuss der Besatzungstruppen systematisch behindert. Durch Artilleriefeuer wurden Gebiete in Ain Issa, Hesekê und Zirgan (Abu Rasen) in Brand geschossen. Neben den 8.000 Hektar Getreide wurden fast dreißig Hektar Olivenhaine unwiederbringlich vernichtet. Die Zerstörung von Olivenhainen ist besonders gravierend, da es mindestens sieben Jahre dauert, bis neue Bäume die ersten Früchte tragen.
Bevölkerung ist sich der Hintergründe der Brandstiftungen bewusst
Die bäuerliche Bevölkerung aus Abu Khashab in der ostsyrischen Region Deir ez-Zor berichtet von Brandstiftungen durch den türkischen Staat sowie durch die baathistischen Paramilitärs Difa al-Watani. Die unter dem Kommando des Assad-Regimes stehenden Milizionäre, deren Verband auch „Nationale Verteidigungskräfte” (NDF) genannt wird, würden insbesondere an der Grenze zwischen Regimegebieten und QSD-kontrollierten Zonen solche Brände legen. Die Mehrheit der Brände findet jedoch an der Grenze zur Türkei oder der türkischen Besatzungszone statt, sagt Barûdo. „Die Bevölkerung sieht mit eigenen Augen, wie die Besatzungstruppen die Felder anzünden. Immer wenn die Feuerwehr ausrückt, um die Brände zu löschen, wird sie von den Söldnern der Türkei angegriffen. Während solchen Löschversuchen wurden bisher drei Zivilist*innen getötet. Zwei weitere sind verletzt worden.“
Die Menschen haben Angst ihre Ernte einzubringen
Barûdo berichtet weiter, dass Besitzer von Mähdreschern Angst hätten, ihre Ernte einzubringen. „Sie werden von der türkischen Armee und ihren Söldnern angegriffen. Sie schießen auf sie. Erst am 17. Mai wurde einer unserer Bürger in der Nähe des Dorfes Dêrna Axê in der Nähe der Grenze von türkischen Soldaten erschossen, als er sein Feld aberntete.“
Plünderung und Erpressung in den besetzten Gebieten
Auch über die Situation in den besetzten Gebieten weiß Barûdo zu berichten: „Nach der Besetzung von Girê Spî und Serêkaniyê wurden innerhalb von sieben Monaten sechs große Getreidesilos geplündert. Darin befanden sich 40.000 Tonnen Weizen, 30.000 Tonnen Gerste, eine ebenso große Menge Baumwolle und Saatgut wurde ebenfalls von den Besatzern geraubt.
Außerdem haben der türkische Staat und seine Milizen 36 Mähdrescher in die besetzten Gebiete geschickt und die Felder der Bauern abgeerntet. Von der bereits eingefahrenen Ernte haben die Milizen selbst 15 Prozent bekommen. Das ist die Plünderungspolitik der Besatzer. Der türkische Staat ist hier ein Besatzer und greift die Bevölkerung Nord- und Ostsyriens und damit die Völker ganz Syriens an.“
Solidarität und Aufmerksamkeit wichtig
Die Selbstverwaltung versucht unterdessen weiterhin, mit sehr begrenzten Mitteln ein Wirtschaftssystem aufzubauen, dass der Bevölkerung dient und sich auf sie stützt, erklärt Barûdo. Er schließt mit den Worten: „Gegenüber dieser unmenschlichen und grausamen Politik, mit der die Besatzer unser Volk in Hunger stürzen wollen, werden wir unsere Solidarität weiter stärken. Als demokratische Selbstverwaltung stehen wir mit allem, was wir sind, an der Seite der Bevölkerung. Unser Volk muss seiner Aufmerksamkeit auf diese ökonomischen Angriffe ausweiten, so wie sie dies bereits in vielen anderen Bereichen getan hat. Es handelt sich um einen umfassenden Angriff. Um diese Phase zu überstehen ist es wichtig, die Felder noch besser zu bewachen und noch mehr Verantwortung für die landwirtschaftlichen Flächen zu übernehmen.“