Bildung in Rojava: Vom Elfenbeinturm zum Alltag

Der Hamburger Student Ramazan Mendanlıoğlu ist seit April für eine soziologische Studie in Rojava. Für ANF beschreibt er die Eindrücke, die er an einer demokratischen Gesellschaftsakademie in Amûdê gewonnen hat.

In den letzten 15 Tagen war ich in einer Bildungssession der „Akademien der demokratischen Gesellschaft" in Til Hebis nahe Amûdê. Solche Akademien, die sowohl offene als auch geschlossene Bildungseinheiten anbieten, gibt es in mehreren Orten hier in Rojava. Ich war in einer geschlossenen Bildung. Zwei Wochen lang habe ich dort Ethnografie betrieben, als Lernender teilgenommen und gleichzeitig teilnehmende Beobachtungen sowie Interviews mit Lehrenden und Experten durchgeführt. An den Akademien nehmen hauptsächlich Aktive aus den Kommunen, den Räten, diversen Kommissionen oder auch von den Sicherheitskräften Asayish und Verkehrspolizisten teil. Wir haben dort geschlafen, Handys waren abzugeben und Besuch oder Ausgang war nur bedingt möglich.

Mikromodell der Gesellschaft

Das Leben in der Akademie kann als Mikromodell der Gesellschaft im Demokratischen Konföderalismus gesehen werden. Die Lernenden und Lehrenden, Frauen und Männer, verwalten, versorgen und bilden sich selbst. Es wird sowohl theoretisches und inhaltliches Wissen vermittelt, dabei viel diskutiert und dialogisch vorgegangen, als auch soziokulturelles und -politisches Wissen auf Basis gleichberechtigter, gemeinschaftlicher, ökologischer, partizipatorischer und selbstorganisatorischer Erfahrung vermittelt - unabhängig vom Erfolg der Vermittlung und des Lernens.

Die Bildung findet also auf zwei Ebenen statt. Männer und Frauen leben und organisieren sich gemeinsam: Kochen, Putzen, Lernen, Essen, Wache. Parallel und zentral gab es viel Wissen als Input. Unterrichtsthemen waren zum Beispiel die Bedeutung und Rolle von Bildung, Berichtigung zentraler Begriffe wie Politik, Ökonomie, Moral, Kultur etc., Geschichte des Mittleren Ostens und Kurdistans, Moral und Politik, Kritik und Selbstkritik, und vieles mehr.

Vom Elfenbeinturmwissen zum Alltagswissen

Ich war überrascht darüber, wie kritisch, wissenschaftlich, modern und zugleich moralisch die Lehre an der Akademie war. Im Punkt Moral unterscheidet sich die kurdische Bewegung von vielen anderen „Schulen". Die Moral ist das alles durchziehende Element, sei es die Politik, die Ökonomie, die Geschlechterordnung oder die Wissenschaft. Ich hatte, warum auch immer, ein viel niedrigeres Niveau erwartet. Vor allem die kritische Herangehensweise hat mir ziemlich gut gefallen, da wir uns in einer Zeit befindet, in der es auf Kritik ankommt, weil es viel zu kritisieren gibt: Hunger, Kriege, Unterdrückung, Umwelt sind nur einige Stichpunkte.

Ein sehr interessanter Punkt, den ich schon in den Kommunen beobachtet habe: Alles, was dort gelehrt wird und passiert, und es passieren sehr „komplexe" Dinge und Interaktionen, geschieht auf Basis einer Alltagssprache. Ein Beispiel aus der Akademie: Dort werden komplexe Themen oder Inhalte in einer Sprache vermittelt, die alle hier kennen und selbst beherrschen. Das ist ein wenig komplizierter, was ich im Folgenden thesenhaft aufstelle, aber hier findet so etwas wie eine Säkularisierung der Politik (von der Staatspolitik zur athenischen polis) oder des Wissens (vom Experten- und Elfenbeinturmwissen zum Alltagswissen) statt.

Über Bewusstseinswandel zur Veränderung der Soziokultur

Die Säule Bildung ist ein sehr zentrales Thema hier in Rojava. Man ist sich bewusst, dass sowohl das soziopolitische Projekt und sein Erfolg, als auch die Menschen und Gesellschaft von Bildung, bildungstechnischer Entwicklung und Aufklärung, Auflösung des dogmatischen Denkens, Förderung des analytischen Denkens bei gleichzeitiger zentralen Rolle von Moralität abhängt.

Der gesellschaftliche Wandel geht nur über einen Wandel des Bewusstseins, der dann zum Wandel des Handelns sprich der Soziokultur führt. Hier findet also nicht nur eine politische, sondern auch eine geistige Revolution statt.