In einer Woche feiert die Revolution von Rojava ihr elfjähriges Bestehen. Am 19. Juli 2012 entstand mit dem Aufstand in Nordsyrien ein emanzipatorisches gesellschaftliches Projekt, das weltweit die Hoffnung der Menschen auf sich zieht und gleichzeitig massiv angegriffen wird. Azad Barış hat sich im ANF-Interview zu der Ausgangslage und den Auswirkungen dieser Revolution geäußert. Der Soziologe geht davon aus, dass die von der Autonomieverwaltung Nordostsyriens (AANES) angekündigten Gerichtsverfahren gegen ausländische IS-Mitglieder auch Auswirkungen auf regionale und internationale Entwicklungen haben werden.
Die Revolution in Rojava geht in ihr zwölftes Jahr. Was war der Grund dafür, dass diese Revolution in Bezug auf ihre Auswirkungen sowohl auf die Menschen in Rojava als auch in der Region schnell als selbstverständlich angesehen wurde?
Um den Prozess zu verstehen, ist es meines Erachtens sinnvoll, zunächst zu untersuchen, warum die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sowohl in Syrien als auch in Rojava als „Revolution" verstanden werden bzw. verstanden werden sollten und welche Dynamik in dieser Hinsicht herrscht:
*Das derzeitige Regime, das seit Jahrzehnten mit allen Arten von Unterdrückung, Verfolgung und autoritären Apparaten existiert
*Die dschihadistischen, reaktionären, fundamentalistischen religiösen Strukturen, die als „Opposition" bezeichnet werden und versuchen, das derzeitige Regime zu beseitigen
*Die Dynamik der Rojava-Revolution, die zeigt, dass ein dritter Weg und eine Alternative sowohl gegen das unterdrückerische und autoritäre aktuelle Regime als auch gegen die religiösen, dschihadistischen, fundamentalistischen Strukturen möglich ist
Als am 19. Juli 2012 Kurden, Turkmenen, Araber, Armenier und Assyrer in Syrien ihr eigenes Schicksal sowohl gegen das Assad-Regime als auch gegen dschihadistische Strukturen wie den IS [„Islamischer Staat“] und FSA [„Freie Syrische Armee“] in die Hand genommen haben, wurde der Grundstein für ein neues Leben, eine neue Gesellschaft und eine neue Politik gelegt. Das ist es, was wir als 3. Weg bezeichnen. Der Aufbau dieses 3. Wegs begann in Kobanê und wurde später zu einer Revolution, die ihre Wirkung in der gesamten Region zeigt.
Wir können über aktuelle und historische Gründe für den positiven Wind sprechen, den die Rojava-Revolution sowohl in Syrien als auch in den von ihr beeinflussten Regionen erzeugt hat. Das starre nationalstaatliche Konzept, das sich vor allem seit Anfang des Jahrhunderts etabliert hat, ist zu einem Gefängnis für die in der Region lebenden Völker geworden. Dieses Konzept beruht auf der Vorherrschaft einer dominanten Nation und Konfession und hat im Laufe der Zeit grundlegende und strukturelle Probleme geschaffen.
Hier können wir die Grundlagen des revolutionären Prozesses in Rojava einordnen, der von den Völkern der Region aufgrund der historischen und aktuellen Entwicklungen schnell als selbstverständlich angesehen wurde. Der Grund dafür, dass diese revolutionäre Dynamik von den Völkern Rojavas schnell akzeptiert wurde und Einfluss in der gesamten Region ausübt, liegt darin, dass das demokratische Autonomiesystem und die libertären Ideale, die in Rojava geschaffen wurden, eine Alternative zu der Unterdrückung und den Konflikten bieten, die es in der Region schon seit langem gibt. Darüber hinaus haben der effektive Kampf gegen den IS in Rojava und die internationale Unterstützung, die in diesem Prozess aufkam, Aufmerksamkeit erregt und die Revolution von Rojava in einem größeren Kreis bekannt gemacht. Wir können sagen, dass diese revolutionäre Dynamik von den Völkern angenommen wurde, weil sie eine Vision von einer ökologischen, innovativen und freien Zukunft beinhaltet, die Völker, religiöse und konfessionelle Gruppen, Frauen und Männer gleichstellt.
Welches sind Ihrer Meinung nach die Instrumente, die sich im System in Rojava etabliert haben oder noch nicht etabliert sind?
Das System in Rojava beruht auf Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Repräsentation der Völker, der Frauen, der Jugend und ihrer aktiven Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Wandel und hat viele gegebene und konventionelle Normen zerstört. Es wurden mehrdimensionale Mechanismen zur Beseitigung dieses Systems eingesetzt. Das derzeitige System in Rojava ist einer umfassenden Angriffs-, Blockade- und Zermürbungsstrategie unterworfen, da es dem Konzept des Nationalstaats sowohl in Syrien als auch in der Region und dem von der dschihadistischen, fundamentalistischen Opposition angestrebten Gesellschaftsmodell zuwiderläuft. In diesem Zusammenhang ist Rojava das Ziel von synchronisierten und systematischen Angriffen sowohl von Nationalstaaten als auch von dschihadistischen Strukturen in der Region. Aufgrund dieser Situation hat Rojava versucht, sich selbst zu versorgen und auf eigenen Füßen zu stehen, um das als Ideal angestrebte soziale und politische Modell zu verwirklichen und dauerhaft zu machen.
Trotz der Angriffe, die Sie erwähnt haben, gibt es immer noch ein System, das überlebt. Wie wird das erreicht?
Trotz all dieser Angriffe sind die Repräsentation der Völker in Rojava, die demokratischen Standards, die Gleichstellung von Männern und Frauen, das Hervortreten der Frauen als politisches Subjekt, die Jugend und ihre Dynamik als Motor dieser Revolution sowie die strukturelle Beziehung zu universellen Werten wie Demokratie, Gleichheit, Pluralismus, Gemeinwirtschaft und Volksversammlungen positive Aspekte. Im Vergleich zu den Nationalstaaten in der Region und zu dem monistischen, unterdrückerischen und sektiererischen Charakter der dschihadistischen Strukturen, die behaupten, eine Alternative zu ihnen zu sein, ist Rojava eine Oase der Demokratie, der Gleichheit, des Pluralismus und der Repräsentation.
Allerdings ist diese Struktur, die für sich in Anspruch nimmt, ein alternatives Modell für die Region zu sein, mit einer ernsthaften Blockade konfrontiert. Das Unvermögen, einen wirksamen Verteidigungsmechanismus sowohl gegen den Druck der Nachbarländer als auch gegen die Angriffe dschihadistischer Elemente einzurichten, und die Unfähigkeit der Kurdinnen und Kurden, eine wirksame Kultur des Dialogs und der Versöhnung untereinander zu schaffen, stellen ein großes Manko dar. Die Tatsache, dass Rojava, das eine Hoffnung für die Völker der Region darstellt, bis heute keinen rechtlichen und politischen Status hat und es nicht gelungen ist, eine wirksame und fruchtbare diplomatische Praxis in den internationalen Beziehungen zu schaffen, sind ein weiterer Rückschlag.
Wird die Revolution von Rojava in Bakurê Kurdistanê (Nordkurdistan) ausreichend wahrgenommen?
Die revolutionäre Dynamik in Rojava ist für alle Teile Kurdistans von großer Bedeutung, auch für Bakur, Başûr und Rojhilat. Die Nationalstaaten in der Region und die hinter ihnen stehenden globalen Mächte haben alle Mittel mobilisiert, um zu verhindern, dass die Dynamik des Wandels und der Transformation, die in Rojava begonnen hat, auf andere Regionen ausstrahlt, da sie die jahrhundertealte Dynamik der Unterdrückung, Verleugnung und Vernichtung zerstört und ein alternatives Modell darstellt.
Die vor einem Jahrhundert gezogenen nationalstaatlichen Grenzen konnten die Interaktion und Kommunikation zwischen den Kurdinnen und Kurden trotz aller Unterdrückungsmechanismen nicht ausschalten. Qamişlo, Serêkaniyê und Kobanê in der Region, die wir heute Rojava nennen, sind tatsächlich mit Nusaybin, Ceylanpınar/Serêkaniyê und Suruç in Bakur verflochten. Kurden, die sich auf der anderen Straßenseite sehen, die durch Verwandtschaft, Blutsbande und kulturelle Interaktion miteinander verbunden sind, haben historische Beziehungen, ein gemeinsames Schicksal und gemeinsame Gefühle. Um zu verhindern, dass sich diese Einheit gegenseitig beeinflusst, wurden nach 2015 große Anstrengungen unternommen, um zu verhindern, dass sich die revolutionäre Dynamik in Rojava auf Bakur überträgt. Die historischen Ängste des türkischen Staates haben mit der in Rojava entstandenen Dynamik eine andere Dimension erhalten.
In Bakurê Kurdistanê wird die Rojava-Revolution wahrgenommen, aber es gibt einige Versäumnisse bei der Einnahme einer entsprechenden politischen und gesellschaftlichen Position. Zu den Gründen für diese Situation können wir Faktoren wie mangelnde Kommunikation, Repression und Zensur nennen. Die Intensität und Vielfalt der Rojava-Revolution kann auch zu einer unzureichenden oder ungenauen Berichterstattung führen. Mit bewussten Anstrengungen und genauen Informationen könnte es möglich sein, dass die Revolution von Rojava in Bakur breiter wahrgenommen wird.
Was hat die Rojava-Revolution den Kurdinnen und Kurden in der Praxis bisher gebracht?
Der revolutionäre Prozess in Rojava, das demokratische Autonomiesystem und der auf Prinzipien wie Gleichberechtigung der Geschlechter, ökologische Nachhaltigkeit, kulturelle Vielfalt und lokale Selbstverwaltung sowie libertären Idealen aufbauende Charakter sind eine Alternative zu den gesellschaftlichen Konstrukten der bestehenden regionalen Nationalstaaten sowie zu den Beziehungsformen des aktuellen kapitalistischen Systems. Um zu verhindern, dass sich dieses alternative Modell auf die Kurdinnen und Kurden in Bakur und anderen Regionen auswirkt, wurde nach 2015 eine massive Strategie der Unterdrückung und Zermürbung in Gang gesetzt.
Es ist wichtig, die Revolution von Rojava in all ihren ethischen Aspekten zu verstehen, sachliche und objektive Informationen bereitzustellen, Kommunikationskanäle zu öffnen und einen Dialog und das Verständnis zwischen verschiedenen Gruppen zu entwickeln. Gleichzeitig ist es wichtiger denn je, ein größeres Bewusstsein für die Subjektivität der Rojava-Revolution in Bakurê Kurdistanê zu schaffen und eine neue demokratische Kultur und ein Projekt der Interessenvertretung zu entwickeln. Darüber hinaus sollten Studien zur öffentlichen Meinung, neue Kommunikationsstrategien und Aktivitäten zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit in den Vordergrund gestellt werden. Nur mit einer Kommunikationsstrategie, die durch ein solches gesellschaftliches Spektrum entwickelt wird, kann es gelingen, sowohl globale Mächte als auch regionale Akteure für einen möglichen Friedensprozess zu gewinnen. Rojava braucht einen interkurdischen Geist der Allianz und globale politische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung. Ein interkurdischer Bündnisgeist bedeutet Solidarität, Zusammenarbeit und die Konzentration auf gemeinsame Ziele zwischen verschiedenen kurdischen Gruppen. Er bedeutet, dass die Kurden gemeinsam handeln, ihre Kräfte bündeln und verschiedene Probleme angehen. Dieser Bündnisgeist ist auch wichtig, damit alle Kurdinnen und Kurden den revolutionären Prozess in Rojava unterstützen und die Erfahrungen in Rojava in anderen kurdischen Regionen verstanden werden.
Welchen Beitrag kann die Idee eines interkurdischen Bündnisses leisten?
Sie kann den Weg für die Anerkennung und Stärkung von Rojava in der internationalen Arena ebnen. Es sollte klargestellt werden, dass das in Rojava errichtete Modell den rechtlichen Status der Staaten in der Region nicht beeinträchtigt, nicht zu einer Teilung oder Trennung führt und dass es einer Autonomietypologie entsprechen kann, die mit den Verfassungen der bestehenden Nationalstaaten im Rahmen des internationalen Rechts übereinstimmt. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Bildung eines interkurdischen Bündnisgeistes und eines politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Netzwerks auf globaler Ebene zur Stärkung und zum nachhaltigen Fortschritt von Rojava beitragen.
Die Autonomiebehörde hat angekündigt, dass sie Gerichtsverfahren gegen IS-Mitglieder einleiten wird. Wird das Rechtssystem, das eine der Säulen des Systems in Rojava ist, in der Lage sein, diese Prozesse zu bewältigen? Wie sollen die Verfahren ablaufen?
Für einen erfolgreichen Ablauf der Gerichtsverfahren gegen IS-Mitglieder ist es wichtig, dass das Rechtssystem in Rojava fair, unparteiisch und im Einklang mit internationalen Standards arbeitet. Es sollten Grundsätze wie Transparenz, beweisgestützte Urteile, Rechtsvertretung, Sicherheit der Betroffenen und Achtung der Menschenrechte beachtet werden. Das in Rojava eingerichtete Rechtssystem hat das Potenzial, durch die Übernahme dieser Grundsätze faire Verfahren durchzuführen.
Die von der Autonomiebehörde eingeleiteten juristischen Verfahren gegen IS-Mitglieder sind eine Entwicklung, die rechtliche, politische, regionale und internationale Folgen haben wird. Die militärische Präsenz des IS wurde bis auf kleine Zellenstrukturen beendet. Die von IS-Mitgliedern begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen und die damit verbundenen Prozesse sind noch nicht durchgeführt worden. Der IS hat vor den Augen der ganzen Welt Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Er hat schreckliche Massaker an Kurden, den Völkern der Region und den Völkern der Welt begangen. Er hat von Şengal bis Frankreich und Australien Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien fordert seit langem ein Tribunal für die Ahndung dieser Verbrechen. In der Autonomieregion sind IS-Mitglieder aus 60 verschiedenen Ländern interniert. Eine juristische Aufarbeitung wäre wichtig für die Verwirklichung der universellen Gerechtigkeit. Prozesse gegen IS-Mitglieder bedeuten, dass die unmenschlichen Taten des IS angeklagt und verurteilt werden.
Was für Ergebnisse werden diese Prozesse haben?
Der IS war eine Struktur, die ein großes Gebiet vom Irak bis nach Syrien kontrollierte, Mosul und Raqqa besetzte und zu ihrer Hauptstadt machte. Es handelt sich um eine Struktur, die sich durch die Erweiterung ihres politischen Machtbereichs in der Region auszubreiten wollte und alle Teile Kurdistans als Territorium ihres Kalifats betrachtete, die Angriffe organisierte und Völkermord beging. Diese Struktur wurde durch den großen Kampf der Kurdinnen und Kurden zu einem hohen Preis neutralisiert. Sie war eine Geißel für die Region und die Welt und wurde durch den Kampf der Kurden unter Inkaufnahme vieler Risiken unschädlich gemacht. Daher werden die Prozesse gegen Mitglieder des IS, der einst ein militärisches und politisches Subjekt war, auch politische Konsequenzen haben. Die Autonomieverwaltung wird mit den von ihr angestrengten Gerichtsverfahren selbst zum politischen Subjekt.
Wird hier nur der IS angeklagt?
Als der IS seinen politischen und militärischen Einfluss im Irak und in Syrien ausweitete, geschah dies mit der Unterstützung, Zustimmung und Anleitung einiger regionaler und globaler Mächte. Die Verurteilung von IS-Mitgliedern bedeutet auch die Verurteilung der Mächte, die den IS unterstützt haben und somit an den vom IS begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren. Die strafrechtliche Verfolgung von IS-Mitgliedern bedeutet auch eine Anklage der Personen und Strukturen, die den IS logistisch unterstützt und mit Waffen versorgt haben, die Ölhandel mit ihm betrieben und ihn unter ihre Schirmherrschaft genommen haben. Wir wissen, dass es in internationalen Institutionen und Gerichten viele Akten zu diesem Thema gibt. Daher bedeutet die strafrechtliche Verfolgung von IS-Mitgliedern auch die strafrechtliche Verfolgung regionaler und internationaler Kräfte, die den IS bei seinen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützt haben. Insofern ist davon auszugehen, dass die Verfahren auch Auswirkungen auf regionale und internationale Entwicklungen haben werden.