Durch abendliche Artillerieangriffe der türkischen Armee sind im nordsyrischen Kanton Kobanê mehrere Flächenbrände ausgebrochen. Menschen sollen nach bisherigen Informationen nicht zu Schaden gekommen sein, wie es heißt. Die Flammen fraßen sich jedoch durch bestelltes Ackerland und vernichteten die Lebensgrundlage mehrerer Dörfer. Alle Angriffe auf Kobanê erfolgten von Außenposten der türkischen Armee. Zeitgleich waren am Himmel über Kobanê fünf Aufklärungsflugzeuge der türkischen Luftwaffe im Einsatz.
Betroffen von den Bombardierungen vom Donnerstagabend waren Ziele im Süden und Westen des Kantons. In der Ortschaft Siftêk etwa zehn Kilometer westlich vom Stadtzentrum sowie im nahegelegenen Dorf Bobanê wurden neben Siedlungsgebieten auch Kontrollpunkte syrischer Regimekräfte ins Visier genommen. Die Positionen Damaszener Regierungstruppen waren auch bei Angriffen früher am Tag in Eşme weiter westlich sowie in den Grenzdörfern Ziyaret und Zor Mixar direkt gegenüber von Girgamêş (tr. Karkamış) unter Beschuss gesetzt worden. Die Region liegt in der Provinz Dîlok (Gaziantep) auf türkischem Staatsgebiet. Auf der Südseite des Miştenûr-Hügels schlugen mehrere Granaten ein.
Es habe sich um „Vergeltungsfeuer“ für einen vermeintlichen Mörserangriff aus dem Autonomiegebiet in Nordsyrien auf die Stadt Girgamêş, erklärte das türkische Verteidigungsministerium. Bei dem angeblichen Einschlag sei am Donnerstag ein Soldat getötet worden, vier weitere Personen wären verletzt. Das Ministerium sprach in gewohnt brachialer Zerstörungsmanier von „vernichteten Terrornestern“ als „Gegenreaktion“. Angeblich seien „zahlreiche Terroristen“ in Kobanê getötet worden.
Bedrohungslage ähnlich wie vor früheren Invasionen
Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wiesen die Vorwürfe umgehend zurück und warfen der Regierung in Ankara eine „False Flag“-Aktion – eine Operation unter falscher Flagge – vor, um Angriffe auf Nord- und Ostsyrien zu rechtfertigen. Vor den gestrigen Attacken auf Kobanê hatte es bereits Bombardements der türkischen Armee gegen Ain Issa, Minbic und Şehba gegeben. Nach QSD-Angaben wurden Artillerieangriffe auf mindestens 29 Dörfer verzeichnet. „Dieser Vorfall um einen angeblichen Angriff unserer Kräfte gegen Karkamış ist von der türkischen Besatzung zur Legitimation weiterer Aggression gegen Nord- und Ostsyrien inszeniert worden.“ Die Bedrohungslage für die Autonomiegebiete ist momentan ähnlich wie vor den Invasionen in Serêkaniyê, Girê Spî oder Efrîn. Auch die damaligen Besatzungskriege begründete die Türkei mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“. Beweise für die behauptete Gefährdungslage durch Nord- und Ostsyrien wurden zu keinem Zeitpunkt vorgelegt.
False Flag
Die Taktik „False Flag“ hat eine lange Geschichte: Der Begriff stammt aus der Seefahrt des 15. und 16. Jahrhunderts, als sich Schiffe zur Identifizierung mit der Flagge ihrer Heimatregionen schmückten. Piraten und Freibeuter segelten unter falscher Flagge, um ihre Opfer erst zu täuschen und dann überraschend zu überfallen. Später wurde „False flag“ zum allgemeinen Ausdruck für Operationen unter dem Namen einer anderen Partei. Mit der Herausbildung der Nationalstaaten in der frühen Neuzeit wurde es ein vorrangig militärisch-geheimdienstliches Instrument staatlicher Politik. Eigene Einrichtungen werden attackiert und der Gegner als Täter dargestellt, dies oft verbunden mit Propaganda.
Mörderische Terrorkampagne gegen Kurden
Seit Gründung der Republik stützt sich der türkische Staat auf gefälschte Beweise oder False-Flag-Operationen, um die sogenannte „Aufstandsbekämpfung“ und die mörderische Terrorkampagne der türkischen Führung gegen Kurdinnen und Kurden zu rechtfertigen. Die geplante Ansiedlung von einer Million syrischer Geflüchteter in der Besatzungszone in Nordsyrien und die damit einhergehende Annexion der Region dürfte aktuell eine wesentliche Rolle bei der vermuteten False-Flag-Aktion spielen.
Angriffe in der Nacht zum Freitag im Kanton Şehba
Eine der berühmtesten Inszenierungen der letzten Jahre bot allerdings ein Mitschnitt einer vertraulichen Unterredung zwischen dem türkischen Geheimdienstchef Hakan Fidan und dem damaligen Außenminister Ahmet Davutoglu, die Anfang 2014 auf YouTube veröffentlicht worden war. Bei dem Gespräch wurde das Szenario eines Vorfalls besprochen, der die Intervention der Türkei im syrischen Bürgerkrieg beziehungsweise die Besatzung von Teilen Rojavas legitimieren solle. Der oberste türkische Geheimdienstler schlug unter anderem vor, einen Raketenangriff auf die Türkei zu fingieren, um so einen Vorwand für die Invasion zu schaffen. „Ich werde vier Männer schicken, das ist alles, was nötig ist“, so Fidan wörtlich. Nachdem der Mitschnitt geleaked worden war, hatte Recep Tayyip Erdogan die Videoplattform YouTube sperren lassen.