Aldar Xelîl: Damaskus sollte sich mit der Selbstverwaltung zusammensetzen
Der PYD-Politiker Aldar Xelîl warnt, der türkische Staat nutze das Baath-Regime in Damaskus, um die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien anzugreifen.
Der PYD-Politiker Aldar Xelîl warnt, der türkische Staat nutze das Baath-Regime in Damaskus, um die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien anzugreifen.
Aldar Xelîl, Vorstandsmitglied der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), äußert sich im ANHA-Interview über die diplomatischen Entwicklungen im Verhältnis der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zum Regime in Damaskus und zu den Gefechten, die im Moment zwischen SNA-Söldnern und HTS-Dschihadisten im besetzten Efrîn stattfinden.
„Intervention des türkischen Staates hält das Regime an der Macht“
Der türkische Staat bemüht sich seit geraumer Zeit, Beziehungen zum Regime in Damaskus aufzubauen. Was steckt dahinter?
Seit Beginn der Syrienkrise hat sich der türkische Staat in die Entwicklung in der Region eingemischt und versucht, einen Wandel zu seinen Gunsten durchzusetzen. So wollte er die Veränderungen in Syrien für sich nutzen. Daher mischte er sich bei allen Parteien und Kräften ein, die Veränderungen in der Region anstrebten, transformierte friedliche Proteste in Zusammenstöße und Oppositionsgruppen in Söldnerbanden. Der türkische Staat sorgte dafür, dass sich die Krise immer länger fortsetzte. Erdoğan und die Vertreter seines Regimes wiederholten gebetsmühlenartig, sie seien gegen das syrische Regime und unterstützten das syrische Volk. Die Türkei öffnete ihre Grenzen und lockte die Hälfte der Bevölkerung Syriens zu sich. Dann begann sie, die Flüchtlinge als Verhandlungsmasse mit Europa und anderen Staaten zu benutzen und diese zu erpressen. Sie wurden auch gegen Syrien benutzt. Wenn das Regime in Damaskus immer noch besteht und Gräueltaten begeht, es keinen Frieden in Syrien gibt und sich kein demokratisches System dort entwickelt, dann liegt das an der Intervention des türkischen Staates. Nach einiger Zeit griff der türkische Staat direkt militärisch in der Region ein und setzte seine Söldner wie Schachfiguren auf syrischem Gebiet ein.
Taktikwechsel
Ohne diese Interventionen des türkischen Staates hätte eine Lösung gefunden und eine Allianz in Genf geschlossen werden können. Aber der türkische Staat griff die Selbstverwaltung bei jeder Gelegenheit an. Mit der Transformation der Opposition in Söldnergruppen verschwand jegliches politisches Projekt, der Dialog brach zusammen und die Krise in Syrien wurde verstetigt. Die Türkei hat mit dieser Opposition nichts mehr zu tun, aber sie hält sie an ihrer Seite, um sie im Bedarfsfall einzusetzen. Andererseits braucht die Türkei das Regime in Damaskus. Mit anderen Worten: Die Strategie ist zwar die gleiche, aber die Taktik ändert sich.
Was ist das für eine Taktik?
Eine der Taktiken besteht darin, Beziehungen zur Regierung in Damaskus aufzubauen. Die Türkei wird Zugeständnisse an die Regierung in Damaskus machen und einige Schritte in diesem Sinn unternehmen. Ein paar Gruppen waren vorher offiziell als „syrische Opposition“ anerkannt worden. So sollte eine den eigenen Bedürfnissen entsprechende Lösung geschaffen werden, und es wurde sogar eine „Übergangsregierung“ ausgerufen. Doch die Türkei will sie nun neutralisieren. Auf diese Weise versucht sie, die Regierung in Damaskus von einer Zusammenarbeit zu überzeugen. Die Regierung in Damaskus verlangt nach den jahrelangen Feindseligkeiten durch die Türkei aber etwas dafür. In erster Linie geht es dabei um die Stützung der „Oppositionsgruppen“ durch die Türkei. Sie sollen die Kontrolle über die besetzten Gebiete abgeben. Die Gebiete können an den IS oder al-Nusra übergeben werden, diese Gruppen stellten kein Problem für das Regime dar.
Ist das der Hintergrund der Gefechte zwischen HTS (Jabhat al-Nusra) und den Söldnergruppen in Efrîn?
Das ist sicherlich eines der Ergebnisse dieser Bemühungen. Während der türkische Staat Idlib entlastet, bereitet sich die Regierung in Damaskus darauf vor, den Grenzübergang Bab al-Hawa einzunehmen. Der türkische Staat will HTS Efrîn im Austausch für Idlib geben. Wenn nicht Efrîn, dann eben Bab, Cerablus und Azaz. Ziel ist es, einen Weg zu einer Übereinkunft mit der Regierung in Damaskus zu finden. Die Oppositionsgruppen, die in Söldnergruppen transformiert worden waren, sind nun geschwächt und unwirksam. Der türkische Staat wird sie dennoch bestehen lassen, um sie bei Bedarf zu nutzen. Er wird jedoch keine militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung leisten. Im Gegenteil, er wird versuchen, in Efrîn und anderen Regionen Alternativen zu schaffen.
Wie wird sich Ihrer Meinung nach das Regime in Damaskus verhalten?
Die Regierung in Damaskus kann nun einen Schritt zurücktreten und sagen: „Okay, wenigstens könnt ihr uns die Last der Bedrohung abnehmen, die diese Menschen für Syrien darstellen. Der IS und al-Nusra haben weltweit ohnehin keine Legitimität und wir können uns von ihnen ohne Probleme befreien. Aber mit den übrigen ist die Situation anders.“ Erdoğan gibt offen zu, dass er das Volk, die Revolution und die syrische Frage für seine eigenen Interessen benutzt und über sie mit der Regierung in Damaskus verhandelt. Er verhandelt mit der Regierung in Damaskus vor allem über russische Vermittlung. Die Regierung in Damaskus wertet dies als Erfolg. Sie ist sich ihrer Schwäche bewusst und hat ein großes Interesse daran, den türkischen Angriffen ein Ende zu setzen. Alles andere ist dem Regime egal.
Können Sie das etwas genauer erklären?
Die türkische Regierung möchte, dass die Regierung in Damaskus das Adana-Abkommen erneuert. Das Adana-Abkommen soll aber in einigen Punkten ergänzt werden. Wie? Zuvor war es dem türkischen Staat erlaubt, zehn Kilometer in syrisches Gebiet einzudringen. Jetzt ist er nicht einmal mehr mit 30 Kilometer zufrieden. Die Regierung in Damaskus ist nicht in der Lage, „Nein“ zu sagen. Das syrische Volk sollte wissen, dass das einzige Hindernis für seinen Erfolg der türkische Staat und die Besatzung ist. Daher muss es sich dementsprechend verhalten.
Wie bewerten Sie das letzte Treffen zwischen Erdoğan und Putin in Astana?
Der türkische Staat profitiert derzeit von mehreren Faktoren. Erstens: Die Regierung in Damaskus ist handlungsunfähig. Zweitens: Russland ist in die Ecke gedrängt. Die Lage Russlands änderte sich mit dem Ukraine-Krieg. Russland braucht den türkischen Staat, um den Zusammenbruch der eigenen Wirtschaft zu verhindern, das Embargo zu unterlaufen, Erdgas und Öl zu verkaufen und um eine Niederlage in der Ukraine zu verhindern. Der türkische Staat nutzt diese Situation aus. Es gibt rund um die Uhr Gespräche und gemeinsame Planungen zwischen Ankara und Moskau. Indem sich der türkische Staat an die Seite Russland stellt, signalisiert er der NATO, dass er nicht alternativlos ist, und setzt so seine Forderungen durch. Die Türkei ist Russlands Nachbar, Russland kann das Embargo nur mit ihr brechen. Die beiden Staaten brauchen sich gegenseitig. Syrien ist der einfachste Punkt, über den sie verhandeln können.
Für den türkischen Staat ging es bei diesen Treffen vor allem um die Selbstverwaltung und die Kurdinnen und Kurden, für Russland um die Lage in der Ukraine. Infolge der Treffen gehen die Angriffe auf die selbstverwalteten Gebiete weiter. Russland will Europa unter Druck setzen und die eigene Situation erleichtern. Erdoğan kann Russland dabei helfen. Er versucht, diese Verhandlungen zu führen, um seine Pläne gegen die Selbstverwaltung und das kurdische Volk zu verwirklichen.
Vor einigen Tagen versammelte das Regime in Damaskus eine große Zahl von Scheichs aus Nord- und Ostsyrien in Aleppo und agitierte gegen die Selbstverwaltung. Wie bewerten Sie dieses Treffen?
Die Regierung in Damaskus hat erkannt, dass der türkische Staat nicht mehr wie früher angreift, und möchte Beziehungen aufbauen. Während sie die Beziehungen ausbaut, will sie sich stark zeigen. Sie verhandelt über die Regionen, die unter der Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, wie auch über die besetzten Gebiete. Damaskus kann nicht sofort angreifen, auch anders vorzugehen ist schwierig, deshalb versucht das Regime, Unfrieden zu stiften. Es versucht auf verschiedenen Wegen, die Menschen dazu zu bringen, sich gegen die Selbstverwaltung zu stellen. Das gab es schon früher, hatte aber keinen Erfolg. Anstelle einer Allianz und einer Lösung führt das Regime solche Treffen durch. Was will es denn so erreichen?
Es ist eine falsche Politik, denn sie führt dazu, dass die Not der Menschen diese kriminalisiert. Das Regime hätte mit diesen Scheichs darüber reden sollen, wie die Probleme gelöst werden können. Aber das Regime macht genau das Gegenteil. Es denkt nicht darüber nach, welche Konflikte und Probleme morgen in diesen Regionen entstehen könnten. Das Regime überlegt nur, wie es die Menschen benutzen kann. Solche Treffen schaden der Einheit des syrischen Volkes, aber sie können die Selbstverwaltung nicht zerstören. Diejenigen, die die Interessen Syriens verteidigen, werden die Selbstverwaltung schützen und verteidigen.
Welche Art von Dialog sollte sich zwischen der Selbstverwaltung und dem Regime in Damaskus entwickeln, und was sollte das Regime tun, um das Problem in Syrien zu lösen?
Heute, morgen, wann auch immer, die Selbstverwaltung und die Regierung in Damaskus müssen sich an einen Tisch setzen. Die Probleme in diesem Land sind zu groß geworden. Wenn wir wirklich die Interessen der Völker Syriens vertreten wollen, müssen wir zusammenkommen. Wenn wir uns zusammensetzen, können wir eine Lösung finden. Es gibt einige Dinge, bei denen wir nicht einer Meinung sind. Aber es aber gibt auch viele Probleme, die wir lösen können. Wir wollen nicht, dass Syrien geteilt wird, und die Regierung in Damaskus will das auch nicht. Die Regierung in Damaskus beharrt jedoch weiterhin auf einem zentralistischen Ansatz und hält sich von einer Lösung fern. Wenn sie eine Lösung gewollt hätte, hätte sie diese Scheichs nicht gegen die Selbstverwaltung aufgebracht. Warum können sich Erdoğan und Bashar treffen, aber wir nicht mit dem Regime in Damaskus? Wir würden uns zusammensetzen und klären, was im Interesse Syriens ist. Wir werden unsere Vorbereitungen für die Lösung aller Probleme und der kurdischen Frage zum Ausdruck bringen. Wir haben nie gesagt: ‚Nur Kurden.‘ Wenn sie uns akzeptieren, werden wir die Einheit und Souveränität Syriens akzeptieren.
Wir sind Teil dieses Landes, aber wir wollen auch unsere Rechte und eine Lösung. Wir halten es nicht für falsch, dass internationale Mächte wie Russland, die Koalition und die arabischen Länder versuchen, Damaskus zum Handeln zu bewegen. Wir sollten uns gemeinsam für den Status der Selbstverwaltung und sogar für den Status der Regierung in Damaskus einsetzen. Vor zehn Jahren haben viele Staaten gesagt: „Wir akzeptieren dieses Regime nicht.“ Damaskus sollte sich nicht von Erdoğans Worten täuschen lassen. Der türkische Staat will die Regierung in Damaskus benutzen, um Druck auf uns, die internationale Koalition und andere Länder auszuüben. Dies liegt nicht im Interesse der Regierung in Damaskus.