Çiya Kurd: „Rojava wird sich unter jeder Bedingung verteidigen“

Der kurdische Politiker Bedran Çiya Kurd mahnt zur Aufmerksamkeit gegenüber Falschmeldungen der Türkei, mit denen das Regime in Ankara Legitimität für einen neuen Angriff gewinnen will.

Die Angriffe und Drohungen der Türkei gegenüber der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien nehmen immer gravierendere Ausmaße an. Analyst:innen warnen, eine neue Invasion der Türkei könne bevorstehen. Angesichts dessen betreiben die Selbstverwaltung und der Demokratische Syrienrat (MSD) seit 45 Tagen einen engmaschigen diplomatischen Verkehr mit Russland, den USA und den europäischen Staaten. Im Gespräch mit der kurdischen Tageszeitung Yeni Özgür Politika äußert sich der stellvertretende Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Bedran Çiya Kurd, zum Inhalt der Gespräche und den aktuellen Entwicklungen in der Region.

Sie haben in letzter Zeit viel Diplomatie betrieben. Können Sie berichten, um was es bei diesen Gesprächen geht?

Alle unsere politischen und diplomatischen Gespräche mit den USA, Russland und den europäischen Staaten verliefen in letzter Zeit sehr positiv. Die Selbstverwaltung und ihr militärischer Flügel haben heute auf der ganzen Welt politisches Gewicht gewonnen. Es ist mittlerweile so, dass man eine politische Lösung in Syrien ohne uns für unmöglich hält. Wir gehen selbstsicher vor und unternehmen die richtigen Schritte. Wir werden jetzt von vielen Staaten als Ansprechpartner betrachtet. Alle sind sich dieser Schlüsselrolle und des Gewichts der Selbstverwaltung bewusst. In diesem Zusammenhang haben wir sehr wichtige Themen auf die Tagesordnung gesetzt. Wir diskutieren über die Schaffung einer dauerhaften Lösung für Syrien. Alle Parteien erklärten, dass die Selbstverwaltung Teil dieser Lösung ist und dass es nicht möglich ist, über eine dauerhafte Lösung außerhalb dieser Struktur zu sprechen. Natürlich haben wir in dieser Hinsicht um Unterstützung und Hilfe gebeten. Die Selbstverwaltung hat einen großen Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) und all seine Strukturen geführt, wir haben unzählige unserer Kämpfer:innen verloren. Wir haben das ganz deutlich zur Sprache gebracht und festgestellt, dass die Selbstverwaltung und ihre militärischen Kräfte unterstützt werden müssen, damit der IS und andere Terrororganisationen nicht wieder an einen Punkt gelangen, an dem sie die Menschheit bedrohen können. In diesem Zusammenhang haben wir auch erklärt, dass die Staaten der Welt angesichts der Angriffe auf Rojava Stellung beziehen und eine klare Haltung einnehmen sollten.

Gut, aber was wurde letztendlich am umfassendsten besprochen?

Ein wichtiger Punkt, auf den wir uns konzentriert haben, war das Stocken des politischen Dialogs zwischen den verschiedenen Seiten. Wir haben deutlich gemacht, dass die Staaten, mit denen wir uns getroffen haben, alle Seiten zusammenbringen und ihre Rolle spielen müssen, um zu verhindern, dass es zu einer weiteren Massenflucht aus Syrien kommt. Die Menschen müssen hier in Frieden leben können.

Die Bedrohung der Region durch von der Türkei unterstützte Gruppen war einer unserer wichtigsten Punkte. Es wurde über Verbrechen gegen die Menschlichkeit berichtet, die von der Türkei unterstützten Söldnern in Efrîn begangen wurden. Die Bedingungen für das Ende dieser Besatzung und die Rückkehr der Bevölkerung von Efrîn wurden ebenfalls in diesem Bericht thematisiert.

Die Türkei bereitet sich zu einem Großangriff auf Rojava vor, heißt es. Haben Sie diesen Punkt auf den Treffen ebenfalls diskutiert?

Es ist wahr, dass die Türkei und ihre Söldnertruppen die Selbstverwaltung bedrohen und angreifen. Sie führen Angriffe durch und behaupten, die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) würden für sie eine Bedrohung darstellen. Wir haben es schon viele Male erklärt und wir sagen es noch einmal: Die QSD haben nie irgendeine Bedrohung für die Türkei dargestellt. Obwohl die Türkei das genau weiß, setzt sie ihre Angriffe und Drohungen fort. In diesem Fall ist die Selbstverwaltung verpflichtet, sich unter allen Umständen zu verteidigen. Es ist unser Recht, unser Volk und unser Land zu schützen, und dieses Recht wird durch das Völkerrecht garantiert. Natürlich haben wir die Drohungen und Angriffe des türkischen Staates in allen Gesprächen zum Ausdruck gebracht. Wir haben betont, dass diese Angriffe nichts Gutes hervorbringen werden, sondern zu einer neuen Welle der Flucht und menschlichen Leids führen werden. Diese Angriffe werden nicht nur uns, sondern ganz Europa und den umliegenden Ländern schaden. Wenn die Angriffe des türkischen Staates weitergehen, werden diese Söldnertruppen, insbesondere der IS, erneut eine Bedrohung für die ganze Welt darstellen. Ich wiederhole es nochmals, die Selbstverwaltung ist keine Bedrohung für irgendjemanden, und der türkische Staat betreibt Propaganda, um seinen Angriffen Legitimität zu verleihen. Weder die USA und Russland noch einer der anderen europäischen Staaten, mit denen wir gesprochen haben, stimmen in dieser Frage mit der Türkei überein. Keiner von ihnen unterstützt diese Angriffe.

Russland hat die Luftangriffe auf die Gebiete, in denen von der Türkei unterstützte Milizen stationiert sind, ausgeweitet. Wie ist das zu verstehen?

Russlands jüngste Luftangriffe auf die protürkischen bewaffneten Gruppen sind eine klare Botschaft an die Türkei. Mit diesen Angriffen sehen wir, dass kein Abkommen mehr zwischen der Türkei und Russland besteht. Von beiden Staaten wurde erwartet, dass sie ein Vorgehen für die Gruppen dort entwickeln würden, aber als die Türkei keine spezifische Lösung für diese Gruppen finden konnte, wurden sie von Russland bombardiert. Vom ersten Moment an wurde von der Türkei erwartet, dass sie eine Lösung für diese Gruppen findet, während die Türkei versuchte, nicht das Problem zu lösen, sondern sie zu halten und für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Die Türkei wollte Russland täuschen. Aber beim letzten Putin-Erdoğan-Treffen bestand Putin auf der sofortigen Auflösung dieser bewaffneten Gruppen. Deshalb nahmen die Angriffe Russlands nach diesem Treffen zu. Russland beschloss, diese Gruppen zu liquidieren, damit sie nicht länger eine Bedrohung darstellen. Was Russland von der Türkei wollte, war, dass sie sich zurücknimmt. Dies ist natürlich nicht nur die russische Entscheidung, sondern eine gemeinsame Entscheidung Russlands und der USA. Mit diesem Schritt wollte Russland ein größeres Mitspracherecht in Syrien haben. Dieses Mitspracherecht erfordert natürlich, dass Russland stärkere Beziehungen zu uns aufbaut, und wir tun dies bilateral. Wir wollen diese Beziehung aufrechterhalten und dass Russland eine aktive Rolle bei einer politischen Lösung spielt.

Trotz aller Angriffe und Bedrohungen gehen Ihre Aufbau- und Institutionalisierungsbemühungen weiter. Inwiefern wurde dies diskutiert?

Oberste Priorität hat für uns der Austausch der Selbstverwaltung mit allen Seiten. Wir bemühen uns, die Probleme, die in diesen Gesprächen auftreten, mit allen Staaten und Kreisen, mit denen wir Diplomatie betreiben, zu teilen und eine Lösung zu finden. Es geht uns in erster Linie darum, den Weg für einen politische Lösung in der Syrien-Frage zu ebnen. Die Lösung regionaler Probleme ist ein Thema, das sowohl die Selbstverwaltung als auch alle Seiten betrifft. Als Selbstverwaltung bleiben wir mit allen Bestandteilen der Gesellschaft im Dialog und sprechen darüber, was wir tun müssen, um eine mögliche Lösung dauerhaft zu gestalten. Ein weiteres wichtiges Thema ist, dass der IS weiterhin Anschläge an Orten wie Girê Spî, Serêkaniyê und Deir ez-Zor verübt. Die Region steht vor dem Wiederaufleben einer großen Bedrohung. Als Verwaltung besprechen wir in diesem Zusammenhang die nächsten Schritte. Das dritte Thema ist die Plan-, Projekt- und Konzeptvorbereitung für den Wiederaufbau von Rojava. Wir arbeiten an diesen Themen, aber es ist kein einfacher Prozess. Wie bekannt ist, gibt es ein Embargo gegen Rojava. Ich kann aber sagen, dass wir intensiv am Wiederaufbau arbeiten. In Übereinstimmung mit unserem demokratischen Paradigma sind wir entschlossen, die Unzulänglichkeiten im politischen Verständnis zu überwinden und ein Rollenmodell für Syrien aufzubauen. Wenn diese Vorbereitungen abgeschlossen sind, wird eine Neuwahl stattfinden, bei der alle Parteien ihre Vertretungen schaffen und eine noch demokratischere, lebenswertere Selbstverwaltung geschaffen wird.