In den selbstverwalteten Regionen in Nord- und Ostsyrien leben nach offiziellen Angaben mehr als 30.000 Menschen mit Behinderungen. Vor der Revolution von Rojava bedeutete eine Behinderung oft gesellschaftlichen Ausschluss. Mit der Revolution entstanden Initiativen für Menschen mit Behinderungen. 2021 gründete sich der Verein Nûdem, der sich mit Bildung, Aufklärung und materieller wie immaterieller Unterstützung für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben einsetzt. Am 23. Oktober findet eine Konferenz zur Vernetzung und Organisierung statt. Im ANF-Gespräch berichtete die Sprecherin von Nûdem, Davyan Mehmûd, über die Arbeit der Initiative. Sie erklärte, dass es zu den Hauptzielen des Vereins gehöre, Sensibilität in der Gesellschaft zu schaffen, Menschen mit Behinderung auszubilden und zu unterstützen und dabei ihre Familien einzubeziehen.
Kommunen als Zentren der Bildung
In Nord- und Ostsyrien gibt es ein System der Rätedemokratie. Die kleinste Einheit der Selbstverwaltung dabei ist die Kommune. Sie besteht aus fünfzig bis über hundert Haushalten und stellt die wichtigste Einrichtung der Selbstverwaltung dar. Die Kommunen sind auch Orte der Bildung. Davyan beschrieb in diesem Zusammenhang die Arbeit von Nûdem: „Mit der Gründung des Vereins wurde zunächst die Anzahl der in Nord- und Ostsyrien lebenden Menschen mit Behinderung ermittelt. Danach wurde über die Kommunen an der Aufklärung und Sensibilisierung der Gesellschaft gearbeitet. Menschen mit Behinderung hatten zuvor keinen Platz in der Gesellschaft. Sie konnten nicht am Leben teilnehmen und sich nicht in die Gesellschaft integrieren. Betroffene Familien isolierten ihre Kinder von der Gesellschaft. Oft unterstützten sie die Kinder nicht, sondern schämten sich für sie. Wir können aber nun sagen, dass diese Situation durch Aufklärung der Gesellschaft und der Familien von Menschen mit Behinderung durch die Bildungsarbeit von Fachleuten und Psycholog:innen in den Kommunen verbessert werden konnte. Die Angehörigen wenden sich an Nûdem, um Hilfe und Solidarität zu erfahren und im Umgang mit Menschen mit Behinderung geschult zu werden.“
Arbeitsmöglichkeiten werden geschaffen
Davyan berichtete, es gebe Ärzt:innen und Fachpersonal, die Erziehungsberatung und psychologische Beratung durchführten, und erklärte: „Die unabdingbare Voraussetzung für eine bewusste und sensible Gesellschaft ist Bildung. Aus diesem Grund war es unser erster Schritt, mit Bildungsarbeit zu beginnen, um die Gesellschaft zu sensibilisieren. Bei den Schulungen, die wir in den Kommunen und in Familien mit behinderten Menschen durchführen, stehen Kommunikation und Sensibilisierung im Vordergrund. Menschen mit Behinderungen erhalten eine umfassende Ausbildung. Sie können eine technische Ausbildung, z.B. im Umgang mit Computern und für handwerkliche Fertigkeiten erhalten. Auch eine grundlegende Sprachausbildung wird angeboten. Als Ergebnis dieser Bildungsangebote wird entsprechend der jeweiligen Bedingungen entweder ein Arbeitsbereich für sie geschaffen, oder sie können ehrenamtlich in unserem Zentrum tätig werden.“
Inklusion in die Gesellschaft
Davyan erklärte, dass sie in direktem Kontakt mit Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen stehen: „Viele Betroffene haben ihr Zuhause nie verlassen. Unsere psychologischen Berater:innen gehen in die Familien und diskutieren mit ihnen. Wir nehmen alle Menschen auf, die in unser Zentrum kommen wollen. Wir wollen, dass sie in der Gesellschaft nicht ausgegrenzt oder in irgendeiner Weise isoliert werden. Es ist unsere Aufgabe, uns mit der Bildung von Kindern, die nicht zur Schule gehen können, zu beschäftigen und sie zu unterrichten. Es ist notwendig, dieses Verantwortungsbewusstsein im ganzen Leben zu zeigen.
Projekt eines Zentrums für Physiotherapie und Bildung
Neue Projekte werden entsprechend den Bedürfnissen eingeleitet. Insbesondere sollten neue Gebäude unter Berücksichtigung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen gebaut werden. Wir haben unsere Haltung, Vorschläge und Projekte zu diesem Thema an vielen Stellen eingereicht und warten auf zukünftige Unterstützung. Die Hilfe durch internationale Institutionen und Organisationen ist sehr begrenzt. In unserer Region gibt es mehr als 30.000 Menschen mit Behinderungen. Die Zahl ist ziemlich hoch. Die gewünschten Projekte können nicht allein mit regionaler Unterstützung realisiert werden. Deshalb brauchen wir die Unterstützung von internationalen Institutionen und Organisationen. Wir wollen ein Bewusstsein in dieser Richtung schaffen. Unsere Priorität ist es, ein Physiotherapie- und Ausbildungszentrum zu eröffnen. Wir brauchen dringend Unterstützung, damit dieses Projekt verwirklicht werden kann. Außerdem werden jedes Jahr die Handarbeiten und Kunstwerke von Menschen mit Behinderung ausgestellt. Das dient auch dazu, sie in die Gesellschaft zu integrieren. Die Menschen sehen, was sie können, sie sind stolz auf sich selbst, und der Blick der Gesellschaft auf sie ändert sich.“
„Freiwilligenarbeit ist unabdingbar“
Nûdem stoße in der Gesellschaft auf großes Interesse und Unterstützung, sagte Davyan und führte aus: „Wir haben in jeder Stadt freiwillige Mitglieder. Durch diese Mitglieder erreichen wir die Menschen an ihren Wohnorten und gewährleisten ihre Unterstützung. In der nächsten Zeit werden wir auch Camps veranstalten. Es geht uns darum, Menschen mit Behinderungen durch unsere Unterstützung zu stärken. Viele Betroffene hatten wenig Selbstvertrauen und dachten, sie seien zu nichts in der Lage und hätten keine Möglichkeit, am sozialen Leben teilzunehmen. Nûdem hat ihnen gezeigt, was sie tun können, und ihr Selbstvertrauen gestärkt. Die Organisierung von Familie und Gesellschaft, ihre Sensibilisierung und die Veränderung ihrer Sichtweise haben den Menschen mit Behinderungen Selbstbewusstsein gegeben. Viele Menschen, die aufgrund der Sichtweise ihrer Familien und der Gesellschaft auf sie Probleme mit ihrem Selbstvertrauen hatten, haben diese Situation überwunden.
Die Freiwilligenarbeit bei der Unterstützung dieser Menschen ist unabdingbar. Es gibt viel Bedarf, aber wenig Unterstützung von außerhalb. Fast alles wird von den Institutionen und Organisationen aus der Region bereitgestellt. Unser Ziel ist es, Lebensräume für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, aber sowohl die Kriegsbedingungen als auch die finanzielle Unterversorgung der Region behindern zwangsläufig diese Entwicklung. Die Gesellschaft sollte Menschen mit Behinderungen unterstützen und ihnen das Gefühl geben, dass sie an ihrer Seite steht.“
„Sensibilität muss geschaffen werden“
Fehîme Esed, Mitglied des Bildungskomitees von Nûdem berichtete von ihrer Arbeit: „Unsere Priorität ist die Sensibilisierung der Familien. Wir wollen es ihnen ermöglichen, auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung einzugehen. Wir wenden uns an alle Teile der Gesellschaft, nicht nur an die betroffenen Familien. Je höher die Sensibilität in der Gesellschaft ist, desto besser können alle Menschen in das Leben einbezogen werden und sich integrieren.“
Bildung von der Sprache zum Kunsthandwerk
Fehîme erklärte, dass die Bildungsprogramme von Sprachkursen für Kurdisch, Arabisch und Englisch hin zur Berufsausbildung, Kunsthandwerk, Computerberufe und technische Fertigkeiten reichen, und beschrieb das Curriculum: „Die angebotenen Kurse werden je nach Altersgruppe ausgerichtet. Darüber hinaus wird vor Beginn des Bildungsprogramms der Gesundheitszustand jeder Person berücksichtigt. Es wird ein individueller Plan und ein Gruppenplan erstellt. Durch die Bildungsangebote wird den Menschen gezeigt, dass sie etwas tun und lernen können. Es wird auch Kunstunterricht organisiert. Die entstandenen Produkte werden in Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert. So entdecken die Menschen auch ihre eigenen Talente. Es entwickelt sich das Gefühl, selbst etwas schaffen zu können.“
Kriegsbedingungen sind Hindernis für Aufbau
Fehîme Esed wies darauf hin, dass Straßen, Schulen, Krankenhäuser usw. noch aus der Zeit des Baath-Regimes stammten. Daher seien sie ohne Berücksichtigung des Bedürfnisses nach Barrierefreiheit gebaut worden. Eine Veränderung sei schwer zu bewerkstelligen: „Wir befinden uns in einem permanenten Kriegszustand. Es ist schwierig, beim Wiederaufbau die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen. Es ist nicht einfach, eine Region neu zu gestalten. Noch schwieriger wird es, wenn es unter Kriegsbedingungen geschieht.“
„Ich habe hier meinen Traum verwirklicht“
Die 17-jährige Newroz Ehmed lebt von Geburt an mit einer Behinderung. Sie berichtete von der Arbeit von Nûdem: „Nûdem bot mir die Möglichkeit einer Ausbildung. Ich träumte davon, mit einer Kamera zu arbeiten, und erhielt eine entsprechende Ausbildung sowie Schulungen zu vielen Themen in diesem Zusammenhang; so wurden meine Fähigkeiten gefördert. Bevor ich in das Zentrum kam, war ich müde, hoffnungslos und hatte keine Freude am Leben. Aber dank Nûdem habe ich am Leben festgehalten. Seit etwa einem Jahr bin ich ehrenamtliches Mitglied. Ich habe nicht mehr das Gefühl, behindert zu sein, und ich kann sagen, dass ich durch die Schulungen Bewusstsein und Frieden gewonnen habe. Ich habe eine körperliche Behinderung, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es schaffen kann. Jetzt helfe und kümmere ich mich um andere Menschen mit Behinderungen.“
„Ich habe die Barrieren überwunden“
Mihemed Ebbas (22) berichtete, dass er aufgrund seiner Behinderung früher nicht einmal das Haus verlassen konnte und keinen Kontakt mit der Gesellschaft gehabt hätte. Er erzählte: „Die Sichtweise der Gesellschaft auf uns war sehr problematisch, vor allem die Einstellung meiner Altersgenossen. Mit der Gründung von Nûdem wurde die Gesellschaft spürbar sensibilisiert. Die Menschen nahmen Kontakt zu uns auf und uns wurde die Teilnahme am Leben ermöglicht. Früher hatte ich keine Freunde, aber jetzt ist das anders. Meine Einstellung zu mir selbst und meine Sicht auf das Leben haben sich geändert. Ich habe gemerkt, dass eine körperliche Behinderung kein Hindernis ist und dass ich alles tun kann. Ich habe die Barrieren überwunden und fühle mich wohl, wenn ich andere Menschen mit Behinderungen unterstützen kann.“