Die junge Welt wird vom Verfassungsschutz beobachtet, weil sie eine Gefahr für die „Freiheitliche Demokratische Grundordnung” darstellen soll. Stefan Huth ist Chefredakteur der Berliner Tageszeitung und hat sich im Gespräch mit Dîlan Karacadağ von Yeni Özgür Politika über diesen drastischen Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit geäußert.
Seit wann wissen Sie, dass die „junge Welt” vom Verfassungsschutz beobachtet wird?
Die junge Welt wurde bereits in den 1990er Jahren immer wieder in den Jahresberichten des Bundesamts für Verfassungsschutz als Quelle genannt, auch in denen einzelner Landesämter. Einzelne Dienststellen beziehen die Zeitung sogar regulär im Abo oder bestellen einzelne Artikel über Presseausschnittsdienste. Über die entsprechenden Abrechnungen haben wir erfahren, dass es da einen beachtlichen Wissensdurst gibt. Insofern wussten wir schon lange, dass das Amt uns auf dem Zettel hat.
Seit 2004 werden wir offiziell in den Jahresberichten als „linksextremistisches” Beobachtungsobjekt geführt, allerdings nicht als journalistisches Produkt, als Tageszeitung, sondern als „Organisation“. Das dient offensichtlich vor allem der eindeutigen Feindmarkierung.
Ihrer Zeitung wird vorgeworfen, „ausländische Guerilla- und Terrororganisationen“ zu Befreiungsbewegungen umzudeuten. Welche Organisationen sind gemeint? Werden palästinensische oder kurdische Gruppen genannt?
Im Verfassungsschutzbericht 2019 – das ist der aktuelle, der nächste für 2020 wird voraussichtlich im Juni im Bundesinnenministerium vorgestellt – werden keine konkreten Beispiele genannt. Allerdings ist 2018 ein „Kompendium“ des VS erschienen, das genauere Angaben liefert. So wird die jW-Berichterstattung über angebliche Terrorgruppen wie die kolumbianische FARC-EP oder die baskische ETA genannt, über die wir in „Tendenzartikeln“ berichteten. Palästinensische Gruppen werden nur allgemein erwähnt.
Der Vorwurf ist ja, dass diese „terroristischen Gruppen” als Befreiungbewegungen dargestellt würden, „um ausgeübte Gewalt damit als legitimes Mittel darzustellen”. Wie interpretieren Sie das?
Naja, umgekehrt wird eher ein Schuh draus: Diese Bewegungen werden vom VS zu Terrorgruppen deklariert, um ihren Befreiungskampf zu delegitimieren. Das Völkerrecht kennt ja das Widerstandsrecht. So ist Widerstand gegen eine fremde Besatzungsmacht völkerrechtlich grundsätzlich zulässig. Die Einschätzungen des VS offenbaren auch in dieser Frage ein zweifelhaftes Rechtsverständnis, vor allem aber reaktionäres Gedankengut.
Die Yeni Özgür Politika wird vom Verfassungsschutz als „Sprachrohr der PKK” bezeichnet und beobachtet. 2005 wurde ihre Vorgängerin verboten. Laufen oder liefen Verfahren gegen die jW?
Wir müssen generell viele Prozesse führen, da es viele Personen und Kräfte gibt, denen unsere Berichterstattung nicht passt. Immer wieder gehen juristische Angriffe auch von staatlichen Stellen aus. So haben wir vor einigen Jahren einen V-Mann des Verfassungsschutzes enttarnt und dessen Namen öffentlich genannt. Er hat dann Staranwälte gegen uns aufgefahren, die er sicher nicht aus der eigenen Tasche bezahlt hat.
Generell fürchten wir, dass im Zuge der politischen Kampagne, die die Regierung aktuell gegen uns führt, die Angriffe härter werden und es perspektivisch auch zu einem Verbot der jungen Welt kommen kann, wie es bei Özgür Politika ja leider der Fall war. Aber ich finde es ermutigend, dass sich in dieser Situation so viele Menschen mit uns solidarisieren – übrigens nicht nur Linke, sondern auch bürgerlich-liberal eingestellte Personen, die erkennen, dass hier bürgerliche Freiheitsrechte in Gefahr sind, sie also auch gemeint sind, wenn die marxistische junge Welt als verfassungsfeindliche „Organisation“ denunziert wird.
Haben Sie von Medieneinrichtungen, Organisationen oder Gewerkschaften Solidaritätsbekundungen erhalten?
Das Neue Deutschland hat gut und fair berichtet, RT Deutsch ebenso, aber ansonsten war Schweigen im Blätterwald. Keine größere Zeitung, kein überregionales Medium hat das Thema aufgegriffen. Die DKP und Die Linke haben sich sehr solidarisch gezeigt, letzterer haben wir ja die von einer übergroßen Mehrheit der Bundestagsfraktion unterstützte Kleine Anfrage in Sachen VS-Beobachtung der jungen Welt zu verdanken, die die Regierung gezwungen hat, Farbe zu bekennen. Ansonsten gab es eine überwältigende Welle des Zuspruchs über Social Media und andere digitale Netzwerke, auch wurden von Einzelpersonen Soliabos abgeschlossen und Anteile unserer Genossenschaft gezeichnet. Von den Gewerkschaften hätte ich mir allerdings wenigstens eine Reaktion versprochen. Da kam bislang nichts.