İÇ İÇE: Ein politischer Raum für neue anatolische Musik

İÇ İÇE, das Festival für neue anatolische Musik, findet in der kommenden Woche in Berlin statt. Das Festival versteht sich als politischer und künstlerischer Raum für migrantische, queere und marginalisierte Perspektiven.

Gründerin Melissa Kolukisagil im Interview

İÇ İÇE, was auf Türkisch so viel bedeutet wie „ineinander verwoben“, ist das erste und einzige divers aufgestellte Festival für neue anatolische Musik in Deutschland. Das Festival versteht sich als politischer und künstlerischer Raum für migrantische, queere und marginalisierte Perspektiven. Gegründet wurde das Festival 2020 von Melissa Kolukisagil. 2025 findet es bereits zum fünften Mal statt – am 14. Juni im Festsaal Kreuzberg in Berlin.

İÇ İÇE organisiert nicht nur Konzerte und Clubnächte, sondern auch solidarische Veranstaltungen wie zuletzt am 31. Januar 2025, wo Spenden für Heyva Sor a Kurdistanê (Kurdischer Roter Halbmond) gesammelt wurden – „als Reaktion auf die gezielten Angriffe der türkischen Armee auf zivile Infrastruktur in Rojava“ hieß es in der Erklärung.

Das Festival ist mittlerweile auch überregional gewachsen: Als tourendes Konzept war İÇ İÇE bereits in Städten wie Hamburg, München, Köln und Heidelberg zu Gast. Da İÇ İÇE in diesem Jahr erstmals ohne öffentliche Förderung auskommen muss, ruft das Festival zur finanziellen Unterstützung auf – um diesen selbstorganisierten Raum auch weiterhin unabhängig und solidarisch gestalten zu können.

Im Interview spricht Gründerin Melissa Kolukisagil über die Entstehung des Festivals, politische Verantwortung und die Frage, was es heißt, neue anatolische Musik zu kuratieren.

Melissa, erinnerst du dich noch an den Moment, in dem dir klar wurde: So ein Festival wie İÇ İÇE fehlt – und ich will das ändern?

Ja, dieser Moment kam nicht plötzlich, sondern war das Ergebnis eines langen Prozesses. Ich lebte damals schon seit sieben Jahren in Berlin und war tief in der Technoszene verankert – erst als Gast, später auch als Bookerin und Veranstalterin. Über die Jahre hatte ich viele Nächte auf denselben Partys verbracht, mit denselben Menschen, denselben Sounds, denselben Konzepten. Irgendwann wurde mir klar: Diese Szene wiederholt sich ständig, sie bewegt sich nicht. Jedenfalls war das vor der Pandemie so. Und sie schließt viele von uns aus.

Räume wie diese wurden nie für Menschen wie uns gemacht. Um da mitspielen zu können, musste ich immer wieder Anteile von mir an der Tür abgeben – als Cis Frau, als queere Person, als PoC, als Kind einer Arbeiter:innenfamilie. Ich habe gelernt, mich zu bewegen, ohne aufzufallen. Aber genau das wollte ich irgendwann nicht mehr. Ich wollte einen Ort, an dem ich mich mit all meinen Anteilen wohlfühle.

Gleichzeitig war ich müde von den Arbeitsverhältnissen im Kulturbereich, die oft von Sexismus und Ausbeutung geprägt waren. Ich hatte das Gefühl, funktionieren zu müssen in einem System, das mir keinen Raum lässt. Der Wunsch, etwas Eigenes zu schaffen, wurde immer größer. Einen Ort, der sich nicht nur anders anfühlt, sondern grundsätzlich andere Strukturen aufbaut.

Du hast İÇ İÇE als „eine Lücke“ beschrieben – was genau hat dir damals in der Kulturlandschaft gefehlt?

Ich habe mich selbst in der Kulturlandschaft einfach nie wirklich gesehen. Mir fehlte Repräsentation, die nicht nur symbolisch ist, sondern komplex, widersprüchlich, lebendig. Mir fehlte ein Ort, der sich nicht an weißen Blicken orientiert, sondern an unseren eigenen Bedürfnissen. Ein Ort, der nicht fragt: „Wie passe ich hier rein?“, sondern: „Wie will ich mich entfalten?“

Mit İÇ İÇE habe ich mir selbst einen Ort geschaffen, in den ich hineinwachsen darf. Das war mein Ausgangspunkt. Ein Raum, der nicht fertig ist, sondern sich mit uns entwickelt. Der nicht verlangt, sich zu erklären, sondern zuhört. Dass dieser Ort heute auch für viele andere funktioniert, ist ein Geschenk – aber kein Zufall.

Wie viel von dir selbst steckt in diesem Festival? Welche Erfahrungen, Wünsche oder auch Frustrationen haben dich dabei geleitet?

İÇ İÇE ist ein sehr persönliches Projekt – aber gerade darin liegt seine Stärke. Es ist anschlussfähig, weil es aus Erfahrungen entstanden ist, die viele von uns teilen. Ich bin im Schwarzwald aufgewachsen, mit dem Rattern der Nähmaschine meiner Mutter, mit Metalkonzerten, türkischem Fernsehen und Hochzeitssälen. Lange Zeit habe ich versucht, all das hinter mir zu lassen, weil es mich an meine Einsamkeit erinnerte.

Später habe ich gelernt, mir selbst zuzuhören: Was will ich mitnehmen, was lasse ich hinter mir? Was ist verletzend, was ist kraftvoll? İÇ İÇE ist aus genau diesen Fragen entstanden.

İÇ İÇE ist also viel mehr als Musik – was bedeutet es für dich emotional und politisch, diesen Raum zu kuratieren?

Für mich bedeutet es, Verantwortung zu übernehmen – für meine eigene Geschichte und für die Geschichten, die viel zu oft überhört, verdrängt oder exotisiert werden. Aber es bedeutet auch tiefe Freude. Ich empfinde es jedes Jahr wieder als Geschenk, zeigen zu dürfen, was für großartige Künstler:innen im Umfeld von İÇ İÇE existieren.

Politisch ist meine kuratorische Praxis ein bewusstes Überzeichnen. Ich versuche, nicht auf bestehende Normen zu reagieren, sondern neue zu setzen – und das ganz selbstverständlich.

Was bedeutet für dich „zeitgenössische anatolische Musik“ – und wie würdest du das einer Person erklären, die das noch nie gehört hat?

„Zeitgenössische anatolische Musik“ ist für mich keine reine Stilbeschreibung, sondern ein Begriff für etwas radikal Lebendiges. Es geht um Musik, die Wurzeln hat – in anatolischen, kurdischen, armensichen, alevitischen, griechischen, jüdischen oder arabischen Traditionen – und gleichzeitig in der Gegenwart lebt. Diese Musik erzählt von Migration, Identität, Verlust, Rebellion. Und sie tut das nicht nostalgisch, sondern transformativ.

Was passiert, wenn die Saz auf den Synthesizer trifft? Wenn die dritte Generation ihre Version von Trauer und Widerstand erzählt? Genau da beginnt für mich die „zeitgenössische“ Dimension. Es geht um Brüche, Übertragungen und das Recht, unsere Geschichte selbst zu erzählen – nicht nur zu bewahren, sondern weiterzuentwickeln.

Warum war es dir wichtig, explizit auch kurdische Musik einzubeziehen? Welche Perspektiven eröffnet das?

Weil kein Festival, das sich ernsthaft mit anatolischer Musik beschäftigt, glaubwürdig sein kann, wenn es kurdische Stimmen nicht hörbar macht. Kurd:innen wurden systematisch zum Schweigen gebracht – in der Türkei, aber auch in der Diaspora. Diese Unterdrückung wirkt bis heute.

Bei İÇ İÇE schaffen wir Räume, in denen marginalisierte Stimmen nicht dekorativ vorkommen, sondern im Zentrum stehen. Kurdische Musik einzubeziehen ist für uns keine Geste, sondern eine Haltung – gegen das Schweigen, gegen die Wiederholung von Ausschlüssen.

Am 31. Januar habt ihr ein Benefizevent für Heyva Sor organisiert. Warum war euch diese Solidaritätsaktion so wichtig?

Weil wir die Angriffe der türkischen Regierung auf Rojava – die gezielte Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen, Wasserwerken – nicht schweigend hinnehmen wollten. Tausende Menschen sind auf der Flucht, die Versorgungslage ist katastrophal, und Heyva Sor leistet unter schwersten Bedingungen Nothilfe.

Gleichzeitig sehen wir auch hier in Deutschland, wie Kurd:innen schikaniert, kriminalisiert und zum Schweigen gebracht werden. Als Festival, das sich aus widerständigen, migrantischen Communities speist, sehen wir es als unsere Verantwortung, Schutzräume zu schaffen – für all jene, die aus dem anatolischen Raum von Unterdrückung betroffen sind.

İç içe“ heißt „ineinander verwoben“. Wie spiegelt sich dieses Prinzip konkret im Line-Up und Programm wider?

„İç içe“ ist nicht nur ein Name – es ist das Grundprinzip des Festivals. Dieses Ineinander-Verwobensein zeigt sich auf allen Ebenen: stilistisch, biografisch, politisch. Wir bringen Künstler:innen zusammen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Eine queere DJ aus Berlin trifft auf eine Sängerin mit alevitischen Wurzeln, ein Performancekünstler mit Fluchterfahrung auf kurdischen Hip-Hop. Diese Begegnungen sind keine Collagen, sondern echte, organische Verbindungen. Es geht nicht darum, Vielfalt auszustellen – sondern zu zeigen: Das alles gehört zusammen. Und noch viel mehr.

Auch das Publikum ist ineinander verwoben. Es begegnen sich migrantische Kids, queere Communities, Menschen mit Fluchterfahrung, antirassistische Allianzen – mit all ihren Geschichten, Widersprüchen und Sehnsüchten. Dieses gemeinsame Dasein, ohne sich anpassen oder erklären zu müssen, ist für mich der politische Kern von İÇ İÇE.

Als ich das Festival ins Leben gerufen habe, ging es mir zunächst darum zu zeigen, dass anatolische Musik Teil der deutschen Kulturgeschichte ist – und selbstverständlich hierher gehört. Dass es migrantische Künstler:innen gibt, die diese Gesellschaft seit Jahrzehnten mitgestalten, aber strukturell übersehen werden.

Gleichzeitig wollte ich mit Erwartungen brechen: Wie klingt eigentlich ein „anatolisches Festival“? Welche Bilder tauchen auf, wenn man an Anatolien denkt? Ich wollte mit diesen Stereotypen aufräumen – auch weil ich selbst anfangs noch stark vom weißen Blick geprägt war. Heute geht es mir eben nicht mehr darum. Sondern neue Formen zu zeigen, die aus unseren Erfahrungen heraus entstehen. Formen, die sich nicht rechtfertigen müssen, sondern sich selbst gehören.

Inwiefern ist İÇ İÇE auch eine Antwort auf Rassismus, Ausgrenzung oder kulturelle Vereinheitlichung?

Am Abend, an dem wir 2020 eigentlich mit der ersten Festivalausgabe online gehen wollten, wurden in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet. Was danach passierte – wie schnell zur Tagesordnung übergegangen wurde, wie wenig gesellschaftliche Konsequenzen folgten – hat vieles für mich verändert. Es war der Moment, in dem ich den weißen Blick endgültig losgelassen habe. Ich wollte kein Festival mehr machen, das sich erklären oder legitimieren muss. Sondern eines, das aus uns selbst heraus spricht.

Das junge Konzept von İÇ İÇE reagierte auf genau diese strukturelle Gewalt und wurde zu einer Kampfansage an kulturelle Homogenität und dominante Erzählungen. Ein Raum, der nicht nur sagt: „Wir gehören dazu“, sondern: „Wir definieren mit, was dazugehört.“ Die Entscheidung, das Festival nach Hanau nicht einfach abzusagen, sondern zu sagen: Jetzt erst recht – war keine Geste, sondern eine Notwendigkeit. Es war klar: Dieses Land muss uns mitdenken – mit all unseren Brüchen, Geschichten und Komplexität.

Einen Monat später kam die Pandemie, und wir mussten zwangsläufig eine Pause machen. Aber gerade in dieser Zeit – im kollektiven Rückzug, im politischen und emotionalen Ausnahmezustand – konnte das, was wir alle erlebt hatten, tiefer in die Struktur von İÇ İÇE einsickern. Diese Erfahrungen wurden Teil unseres Selbstverständnisses, Teil der Haltung, mit der wir arbeiten.

Welche Herausforderungen bringt es mit sich, ein so diverses und bewusst politisches Festival zu organisieren – auch im Kulturbetrieb?

Der Kulturbetrieb ist noch immer stark von weißen, akademischen Strukturen geprägt. Ein migrantisches, queeres, bewusst politisches Festival wie İÇ İÇE wird darin oft nicht als selbstverständlicher Teil des Kulturgeschehens gesehen, sondern schnell exotisiert – oder als „zu aufgeladen“ eingeordnet. Gleichzeitig muss es manchmal auch als Token herhalten. Förderlogiken greifen oft zu kurz, weil sie die emotionale, politische und kuratorische Tiefe unserer Arbeit nicht wirklich erfassen. Die endlichen Ressourcen und unser Anspruch ganzjährig für unsere Communities „da zu sein“ stehen sich manchmal streng gegenüber.

Gleichzeitig wachsen auch innerhalb des Festivals die Herausforderungen. Je sichtbarer wir werden, desto vielfältiger wird unser Publikum – und damit auch die Erwartungen. Längst kommen nicht mehr nur die, die İÇ İÇE aus der ersten Stunde kennen oder die politisch bereits andocken. Wir ziehen inzwischen auch Zielgruppen an, die mit unseren Werten und Codes erst vertraut gemacht werden müssen. Das ist kein Problem, aber es braucht Arbeit und Aufmerksamkeit.

Unser Awareness-Konzept und unser Code of Conduct sind deshalb keine starren Regelwerke, sondern etwas Lebendiges – sie wachsen mit uns, sie atmen. Wir versuchen, bestmöglich Verantwortung zu übernehmen, aber wir übersehen auch Dinge. Und das benennen wir. Lernen gehört zu unserem Selbstverständnis. Vielfalt bedeutet auch Reibung – und diese auszuhalten, ohne in Harmoniezwang zu verfallen, ist Teil unseres Anspruchs.

Was ist deine Vision für İÇ İÇE in fünf oder zehn Jahren?

Ich wünsche mir, dass wir noch lange weitermachen können – und dass wir das tourende Konzept von İÇ İÇE weiterführen und ausbauen. Gerade ist vieles ungewiss: Zum ersten Mal mussten wir das Festival ohne Förderung stemmen. Das war kräftezehrend, aber wir haben es geschafft – dank unserer Community und durch Crowdfunding.

Langfristig hoffe ich, dass wir nachhaltige Strukturen aufbauen können – für uns als Team und für unsere Arbeit. Und wer weiß: Vielleicht gibt es irgendwann auch eine İÇ İÇE-Ausgabe im Ausland.

Wie kann man euch unterstützen?

Unser Crowdfunding-Topf ist weiterhin geöffnet – aktuell klafft noch eine Finanzierungslücke von rund 3.000 Euro. Jede Spende hilft uns enorm!

Wir freuen uns außerdem über Einladungen in andere Städte und sind offen für Kooperationen – gerade, um unser tourendes Konzept lebendig zu halten und weiterzutragen.

Am meisten unterstützt ihr uns aber, indem ihr euch ein Ticket kauft, zum İÇ İÇE kommt und mit uns feiert. Wir brauchen diesen Moment des Zusammenkommens mehr denn je – um zu spüren, dass all das Kämpfen sich gelohnt hat.


Fotos © İÇ İÇE | Ceren Saner & Joanna Schröder