Willkür im Gefängnis: Sogar Engels gilt als Terrorist

Im Espiye-Gefängnis in Giresun sind die Gefangenen der Willkür ausgesetzt und erhalten keine medizinische Behandlung. Mit Hilferufen wenden sie sich an Menschenrechtsorganisationen und Ärztevereinigungen.

Die Insassen türkischer Gefängnisse sind immer wieder Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt. Während der Corona-Pandemie wurden viele Gefangene in das L-Typ-Gefängnis Espiye in der Schwarzmeerregion Giresun verlegt. Dort nutzt die Vollzugsleitung das Virus als Ausrede, um den Gefangenen die Befriedigung ihrer grundlegendsten Bedürfnisse zu verweigern.

Laut Berichten von Gefangenen ist die Haftanstalt weit über ihre Kapazitätsgrenze hinaus belegt. In den Zellenblöcken sind statt der vorgesehenen Maximalanzahl von 14 Personen bis zu 24 Gefangene untergebracht. Die Insassen der überfüllten Zellen klagen über unzureichende Belüftung in den kleinen Räumen. Die vor den Fenstern angebrachten engmaschigen Drahtgitter verstärken das Problem zusätzlich.

Die Ärztevereinigung muss ihrer Pflicht nachkommen

Gefangene berichten zudem, dass mit Verweis auf die Pandemie schwer kranken Insassen die medizinische Behandlung verweigert wird: „Sogar ans Justizministerium haben wir geschrieben. Wir erhalten keine Reaktion auf unsere Anfragen. Wir haben hier chronisch und schwer erkrankte Menschen. Selbst die notwendigen Medikamente werden nicht verabreicht. Der Gefängnisarzt missachtet seinen hippokratischen Eid. Er ist rassistisch und faschistisch eingestellt und verweigert selbst bei Notfällen die Untersuchung. Er verhält sich nicht wie ein Doktor, sondern wie ein Richter, der über uns urteilt. Wir fordern die Türkische Ärztevereinigung auf, sich dieses Themas anzunehmen und ein Verfahren gegen diese Person einzuleiten.“

Hier ist sogar Engels ein Terrorist

Weiteren Angaben der Gefangenen zufolge wurden ihnen ihre persönlichen Gegenstände nach dem Transfer nach Giresun nicht wieder ausgehändigt. Die Vollzugsleitung weigert sich, den Gefangenen Auskunft oder Begründung für das Einbehalten ihrer Briefe, Radios und Bücher zu geben. Kurdischsprachige Bücher sind komplett verboten und auch Bücher, welche das Wort „Kurdisch“ im Titel tragen, werden nicht ausgehändigt, da sie „unerwünscht“ seien. Autoren wie Michail Bakunin oder Friedrich Engels werden als „gefährlich“ eingestuft und ihre Bücher werden ebenfalls einbehalten. Da zudem keine Tageszeitungen zu erhalten sind, können sich die Gefangenen nur sehr eingeschränkt über das Geschehen außerhalb das Gefängnisses informieren.

Ein Volleyball würde die „Gefängnismauern zerstören“

Soziale Aktivitäten in den Gemeinschaftsräumen wurden von der Gefängnisleitung gestrichen und auf diesbezügliche Forderungsschreiben erhalten die Gefangenen keine Antwort. Briefe an die Gefangenen werden ohne Angabe von Gründen von der Postüberprüfungskommission bis zu drei Monate zurückgehalten oder gar nicht ausgehändigt. Da alle sozialen Aktivitäten ausgesetzt wurden, fragten die Gefangenen nach einem Volleyball, um in der Zelle Sport treiben zu können. Dies wurde mit der absurden Behauptung abgeschmettert, der Ball „würde die Gefängnismauern zerstören“.

Untersuchung durch Menschenrechtsverein gefordert

Wenn Gefangene zum Telefonieren oder aus anderen Gründen doch mal die Zellen verlassen, werden sie von den Wachen zur Informantentätigkeit gezwungen. Zwei Gefangene werden zudem ohne Angabe von Gründen weiterhin festgehalten, obwohl sie ihre Strafe bereits abgesessen haben. Die Gefangenen der Vollzugsanstalt in Giresun fordern unterdessen eine Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen durch den Menschenrechtsverein IHD und die Türkische Ärztevereinigung sowie die Entsendung von Anwältinnen und Anwälten in das Gefängnis.